Steinhart

Der alte Pfarrer von Johnsbach, zuständig auch für den dortigen Bergsteigerfriedhof, soll nach der Messe einmal gesagt haben: „Heuer gab es leider keine Bergtoten, aber es ist auch so möglich, sich hier begraben zu lassen. Kommen Sie!“ Josef Hasitschka muss lachen, als er diese Geschichte erzählt. Hasitschka ist so etwas wie das historische Gedächtnis des Gesäuses, eines eindrücklichen Felsmassivs in der Steiermark. Der Historiker mit grauem Schnauzer und hellblauen Augen erforscht seit Jahrzehnten die Geschichte des Landstrichs, die vor allem von zwei starken Kräften dominiert wird: der Anziehungskraft der steil aufragenden Kalkberge einerseits und dem Benediktinerstift Admont andererseits, das am Eingang des Gesäuses steht und seit bald tausend Jahren die Region prägt: in geistlichem, noch mehr aber in weltlich-ökonomischem Sinn.

Bevor man sich zu einer Bergtour ins Gesäuse aufmacht, kann ein Besuch auf dem Bergsteigerfriedhof nicht schaden. Hasitschka geht voran, zwischen den Grabsteinen hindurch, auf denen die immer gleiche Todesursache mit wechselnden Schauplätzen eingraviert ist: Abgestürzt . . . in der Hochtor-Nordwand, am Großen Ödstein, an der Roßkuppenkante. Der umtriebige Historiker kennt die Geschichten der verunglückten Bergsteiger alle. „Der Stadler hier hat im großen Wettersturz zu Pfingsten 1936 seiner Braut in der Roßkuppenkante seine warmen Kleider gegeben“, sagt Hasitschka und weist auf einen unbehauenen Stein mit einem schiefen Kreuz darauf. „Sie konnte am nächsten Tag gerettet werden, er ist an Erschöpfung gestorben – eine tragische G’schicht’.“

Derer gibt es viele. Es waren meist sehr junge Leute, viele kamen zwischen den zwei Weltkriegen ums Leben. „Das war eine Zeit, in der das Bergsteigen als heldenhafter Kampf angesehen wurde, den man entweder gewann – oder darin umkam“, sagt Hasitschka. Große Bergsteiger waren unter ihnen, aber auch viele Wiener, die das Gesäuse als Abenteuer-Spielwiese entdeckt und oft unterschätzt hatten.

Unterschätzen kann man den Gebirgsstock, der seit 2002 ein Nationalpark ist, heute noch leicht. Nur 2369 Meter misst der höchste Gipfel, das Hochtor, doch die meisten Talorte liegen sehr tief auf 500 bis 800 Metern. Die Höhenunterschiede sind groß, die Pfade steil. Wer von unten hinaufschaut, kann sich gar nicht vorstellen, dass Wandersteige durch diese Felswände führen.

Johnsbach, das sich Bergsteigerdorf nennt, liegt mittendrin, ein Dutzend Bauernhöfe, ein paar Gasthäuser, verstreut auf ein langgezogenes, grünes Hochtal, das umso schöner und sonniger wird, je höher man kommt. Im Herbst und Winter, wenn über Admont und dem Ennstal der Nebel liegt, ist es hier oben immer sonnig, kein schlechtes Werbeargument. „Wir sind klein, aber nicht unscheinbar“, sagt Ludwig Wolf, Inhaber des Gasthauses Kölblwirt und Bürgermeister des 150-Einwohner-Ortes. Die Johnsbacher sind selbstbewusst, Nachfahren von stolzen Jägern, Bauern und Holzknechten. Man hat hier noch eine eigene Musikkapelle und natürlich einen eigenen Kopf, an dessen Härte sich auch die Prälaten des Stifts Admont schon die Zähne ausgebissen haben.

Vor Jahren wollte etwa das Stift im letzten unverbauten Flussabschnitt der Enns ein Kraftwerk bauen. Es entstand eine Bürgerbewegung, die das verhindern konnte, was letztlich zur Einrichtung des Nationalparks geführt hat. Das Stift, das der größte private Waldbesitzer der Steiermark und der größte Arbeitgeber der Region ist, acht Wasserkraftwerke und eine Immobiliengesellschaft besitzt, war gegen den Nationalpark und erlitt eine herbe Niederlage.

Was nicht heißt, dass der Abt, ein jovialer, rundlicher und eher ins weltliche als ins vergeistigte tendierender Mann nicht immer noch herauf ins Dorf kommt, wenn es etwas einzuweihen oder ein Jubiläum zu feiern gilt. Denn schließlich ist Johnsbach eine von 27 Pfarreien, die das Stift neben seinen anderen Tätigkeiten zu betreuen hat.

Man hat sich hier bewusst für einen naturverträglichen Tourismus entschieden. Skitourengeher statt Skilifte. Wanderwege statt Forststraßen. In den Gasthäusern hängen noch Pergament-Lampenschirme und schlechte Trinksprüche, es gibt nicht Lachscarpaccio, sondern Rindsschnitzel mit Rahmsauce und die überall sonst ausgestorbenen Kartoffelkroketten. In allem der glatte Gegenentwurf zum touristisch durchgestylten Tirol oder Salzburg. Dennoch profitieren die Leute davon.

„Wir leben hier aber nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart“, sagt Ernst Kren. Der Endvierziger ist Obmann der Alpenvereinssektion Admont und einer der besten Kenner dieses Gebirges. Er ist die meisten klassischen Gesäuserouten geklettert, hat sich für den Nationalpark eingesetzt, sich mit dem Stift angelegt und zusammen mit Hasitschka ein Buch über die Kletterpioniere geschrieben. „Es passiert heute natürlich viel weniger als früher, auch weil wir fast alle Kletterrouten saniert haben“ sagt Kren, während er vorausgeht auf dem Peternpfad, einem anspruchsvollen Steig mit Kletterpassagen und grandioser Aussicht. Normalerweise gehe er den Peternpfad nur herunter, sagt Kren, als leichten „Fluchtweg“ nach Klettertouren in den Nordwänden des Gesäuses.

Nein, runter möchte man hier nicht müssen, denn schon der Aufstieg hat es in sich. Man steigt, umgeben von einschüchternden, graugelben Felswänden, teils auf einem Steig, teils aber auch über Felsrampen mit guten Griffen höher. Auf der Spitze eines Felsturms steht eine Gams und zeichnet sich wie ein Schattenriss im Gegenlicht ab. In den steilen Felswänden ringsum hängen Kletterer, deren Zurufe zu hören sind. Je höher man kommt, desto mehr weitet sich der Blick auf das in der Sonne liegende Ennstal. Den Gesäuse-Eingang bilden zwei von hier oben winzig wirkende Berge, zwischen denen die Enns hinunterstürzt. Da es dort gar so rauscht und saust, erklärt Kren, nannte man das Gebirge dahinter Gesäuse.

Kren, braungebrannt, und, obwohl Kettenraucher, ziemlich fit, kennt viel Bergsteigerlatein. Fast bei jedem größeren Stein hält er an und beginnt: „Da gibt’s auch a lässige G’schicht’.“ Von „multipel zerschmetterteten“ Absturzopfern erzählt er und dass in den Dreißigern so viele abgestürzt seien, „weil sie schnell noch auf den Nachtzug nach Wien mussten“. Der Peternpfad, so Kren, sei benannt nach einem legendären Wilderer. Offiziell sei der Weg 1877 zum ersten Mal bestiegen worden – vom Wiener Fabrikanten und Gesäuseentdecker Heinrich Hess. Allerdings führte ihn der einheimische Forstmeister Andreas Rodlauer. „Der Rodlauer“, sagt Kren, hat beim Aufstieg immer schon gewusst, was kommt, ,ein paar schiache Örtln‘ oder ein ,zwiderer Riss‘“. Es sei also ziemlich klar, dass Rodlauer der Erstbesteiger und auch der nie erwischte Wilderer gewesen ist. Hat man den Ennstaler Sprung überwunden, die luftige Schlüsselstelle des Peternpfads, ist bald die Scharte und das Petersköpfl erreicht, von wo man das ganze Gesäuse überblickt und sieht, wie tief die Felsmauern in den Talgrund abfallen.

Eine Wegstunde vom Gipfel entfernt steht die Hesshütte, auf der seit 22 Jahren ein weiteres Gesäuse-Original residiert: der Hüttenwirt Reini Reichenfelser. Er ist ein kapitales Mannsbild in Lederwams und Lederhosen. Er begrüßt viele Gäste namentlich, oft mit ironischem Unterton. „Heuer muss das Wetter noch gut werden“, sagt er, „ich hab’ viel Bier herauffliegen lassen.“ Das Bier lässt er extra in Bayern als Hesshüttenbräu etikettieren, außerdem bietet er Flaschenweine an oder Gamssuppe mit Kürbisgnocchi. „Die Leut’ wollen sich doch belohnen nach einer anstrengenden Bergtour“, sagt Reichenfelser. Außerdem habe ihm der Wirtschaftsdirektor des Stifts Admont gesagt, im guten Einkauf liege der Gewinn. „Und der muss es schließlich wissen.“ Alle lachen, denn das Stift hat ebenso seinen Ruf.

Auf der Terrasse der Hesshütte ließe es sich gut länger aushalten in der Nachmittagssonne – wenn da nicht der Abstieg wartete über den Wasserfallweg. Der ist ungefähr so steil, wie er sich anhört, natürlich auch von Hess und Rodlauer erstbegangen, und mit vielen sehr langen und exponierten Metallleitern versehen. Zum Glück weiß man das noch nicht, als man auf Reinis Terrasse sitzt, Gamssuppe löffelt und noch ein Hessbräu bestellt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.