Von oben herab

Francesco Coter hat den schönsten Arbeitsplatz der Stadt. Sein Atelier liegt im dritten Stock des prunkvollen Palazzo Terzi am Rand der Città Alta, dem historischen Zentrum von Bergamo, das auf einem Hügel über der Ebene von dicken Stadtmauern eingefasst ist. Aus den Fenstern seines Ateliers geht der Blick über die Stadtmauer hinweg auf Bergamo Bassa, den viel größeren und neueren Teil der Stadt, deren Ausläufer im Dunst der Poebene verschwimmen. Im Norden sieht man die ersten Höhenzüge der Bergamasker Voralpen. „In den sechziger Jahren war es genau anders herum als heute“, sagt Coter. „Da haben dich die Hausmeister fast angefleht, ob du nicht in einen der alten Palazzi hier oben einziehen willst.“ Es habe keine Bäder und keine richtige Kanalisation gegeben, die Leute wohnten lieber in den neuen Gebäuden in der Unterstadt.

Seit 1964 lebt der 74-jährige Maler in einem Seitenflügel des Palazzo. Er war allerdings häufig unterwegs in seinem Leben. Zwei Jahre hat er in Tibet und Nepal gelebt, zehn Jahre in Norddeutschland, wo er für seine Kunstwerke mehrere Auszeichnungen bekommen hat, wie er stolz mit vergilbten Zeitungsausschnitten belegt. „Aber was du im Ausland gemacht hast, gilt hier nicht, Bergamo ist Provinz. Da zählt nur, was du hier gemacht hast.“ Die Akademie hier in der Stadt sei „nicht gerade ein Hort der Avantgarde“ gewesen, sagt er.

Coter steht in seinem Atelier vor großformatigen Leinwänden, die mit einer Vielzahl von blauen Buchstaben in verschiedenen Schriften bemalt sind. Viele asiatische Zeichen sind darunter, und sie sind angeordnet wie Strahlen, die von der Sonne ausgehen. Das Ganze wirkt reduziert und kalligraphisch, ein wenig esoterisch auch. Ihm gehe es um die Einheit in der Vielfalt, sagt Coter, der sich selbst ganz gern in der Rolle des weltläufigen und seiner Heimat gegenüber kritischen Exzentrikers inszeniert. Zurzeit nerven ihn am Wochenende die vielen Jugendlichen, die mit der Standseilbahn aus der Unterstadt in die Città Alta kommen, um in den Restaurants und Bars an den hübschen Piazze auszugehen. Die Seilbahn, die es schon seit 1887 gibt, durchstößt unweit seines Palazzos die mächtigen venezianischen Stadtmauern, und wenn die Jugendlichen nachts die letzte Bahn versäumen, torkeln sie die 85 Höhenmeter grölend zu Fuß die Treppen an der Bahntrasse entlang hinunter. „Eigentlich bräuchte ich neue, schalldichte Fenster, aber die sollen 9000 Euro kosten!“

Città Alta, Città Bassa. Zwar ist beides Bergamo, doch heute rangiert die knapp 100 Meter höher gelegene Oberstadt in der Beliebtheit bei Einheimischen und Touristen weit vorne. Nicht, dass es unten keine historischen Gebäude und hübschen Straßenzüge gäbe. Aber dem Charme der Altstadt mit ihrer mittelalterlichen Prägung, den engen gepflasterten Gassen, den großen Kirchen und Renaissance-Palazzi kann sich niemand entziehen. Die Hauptachse der autofreien Altstadt ist die im Fischgrätenmuster gepflasterte Via Colleoni. An ihr liegen die wichtigsten Gebäude und der schönste Platz der Stadt, die Piazza Vecchia. Der Architekt Le Corbusier, so erzählen es einem die Einheimischen, und man glaubt es ihnen natürlich sofort, soll gesagt haben, es sei einer der schönsten Plätze der Welt; wer nur einen Stein verändere, begehe ein Verbrechen. Jedenfalls treffen hier Baustile aus den vergangenen 800 Jahren auf derart harmonische Weise zusammen, dass man sofort bleiben und schauen mag. Beherrscht wird der Platz vom Palazzo Vecchio, der mit seinen gotischen Fenstern und der Steinfassade streng mittelalterlich wirkt. Von hier aus wurden die Stadt und das Umland regiert, unter den drei hohen, offenen Arkaden im Erdgeschoss tagte das Gericht. Mitten auf dem Platz steht ein Brunnen, dessen Becken von Löwen und Sphingen aus Marmor umgeben ist. Er ist ein Geschenk des letzten Podestà von Venedig an die Bevölkerung. Bergamo war lange unter der Herrschaft der Republik von Venedig, von 1428 bis 1797, danach kamen Franzosen und Habsburger. Doch am meisten geprägt wurde die Stadt von den Venezianern, was auch die fünf Kilometer lange, komplett erhaltene Stadtmauer aus dieser Zeit beweist.

Wer die Via Colleoni Richtung Westen geht, kommt an vielen, unvermeidlichen Turnschuh- und Kleidergeschäften vorbei, einigen Restaurants und, recht unscheinbar, auch an der Ladenwerkstatt des Tapezierers Giuseppe Carrara. Unter einem alten Kreuzgewölbe sitzt er im Neonlicht, umgeben von Regalen mit Stoffmustern und einigen halbfertigen Polsterstühlen. Im Hintergrund rattert eine Nähmaschine, an der Carraras Frau sitzt. „Es gibt heute hier in der Altstadt zu viele unnütze Geschäfte“, sagt Carrara, der über 80 ist, aber wie 60 wirkt. Er hat sein Geschäft 1953 eröffnet und viele Handwerker gehen und Kettengeschäfte einziehen sehen. „Vor 20 Jahren gab es vier Metzger, heute gibt es noch einen einzigen“, sagt er. Die Stadt sei heute aber viel belebter, obwohl der Verkehr ausgesperrt wurde. Anfangs seien viele Geschäftsleute dagegen gewesen. „Die Bergamasker sind ein harter, misstrauischer Menschenschlag“, sagt Carrara, der noch den harten bergamaskischen Dialekt beherrscht. Sie hätten zu viele Fremdherrschaften erlebt. „Doch wenn man einmal ihr Vertrauen gewinnt, sind sie sehr gastfreundlich.“

Carrara erinnert sich noch, als Mimmo, ein Süditaliener, 1956 die erste Pizzeria in der Città Alta eröffnet hat, nur wenige Häuser neben seiner Werkstatt. „Der wurde nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen“, so Carrara. Er habe seine Pizza jedoch gleich bei ihm gegessen. „Da Mimmo“ gibt es immer noch, es ist eines der besten Restaurants der Stadt mit einem schönen Innenhof. Hier gibt es Pizza mit Büffelmozzarella genauso wie die deftigen Spezialitäten der bergamasker Küche, die viel mit Polenta, gegrilltem Fleisch und Käse zu tun haben. Man sei halt ein Bergvolk, sagt Carrara, das über Jahrhunderte aus den armen Tälern in die Städte ausgewandert ist, um sich dort als Diener oder Handwerker zu verdingen. Der Arlecchino etwa, den er als Handpuppe im Schaufenster liegen hat, sei mit seinem bunten, aus Flicken zusammengesetzten Gewand ein waschechter Bergamasker, der in Venedig Arbeit suchte und über dessen hinterwäldlerische Art man sich gut lustig machen konnte.

Dabei zeugt die Stadt nicht gerade von Armut. Die Palazzi sind einschüchternd breit und hoch, oft mit aufgesetzten Türmen, die die Macht der Familien symbolisierten. Jener der Familie Suardi steht an der Piazza Vecchia und ist heute der Campanone genannte Stadtturm, dessen Glocken abends um zehn 100 Mal schlagen – ein eindrückliches Spektakel. Und gleich hinter der Piazza Vecchia, wenn man unter den Arkaden des gotischen Rathauses durchgeht, steht ein Ensemble aus kirchlichen Bauwerken, auf das viele größere Städte Italiens neidisch sein dürften: Der alte Dom mit seiner weißen Neo-Renaissance-Fassade ist noch das unspektakulärste. Die romanische Kirche Santa Maria Maggiore mit ihrem von Marmorlöwen getragenen Eingangsportal, eine gotische Taufkapelle und die Capella Colleoni, das Prunk-Mausoleum eines Söldnerführers aus dem 15. Jahrhundert, bilden einen Platz, der schon öfter als Set für Historienfilme diente.

Mehr in der Gegenwart lebt Aldo Ghilardi. Der ehemalige Kommunist hat die Kooperative „Circolino“ gegründet, die in einem aufgelassenen Gefängnis ein Restaurant betreibt. Der Gastgarten ist riesig, man schaut von dort auf die immer noch vergitterten und von Efeu überwucherten Fenster des Knasts, dahinter sind die Berge zu sehen. „Wir wollten hier den Alten die Möglichkeit geben, den ganzen Nachmittag Boccia oder Karten zu spielen, ohne Pflicht zur Konsumation“, sagt Ghilardi. Das dürften sie in den schicken Bars der Altstadt nicht. Nach und nach seien dann auch die Jüngeren gekommen und heute ist das Publikum bunt gemischt, der Innenhof stets voll. Mit den Einnahmen aus dem Restaurant unterstützt Ghilardis Kooperative Alte, Kranke und Arme, „ohne einen Cent Zuschuss vom Staat“, wie er betont. „Extracomunitari“, wie hier vor allem afrikanische Einwanderer genannt werden, „erhalten bei uns eine Chance zur Ausbildung“, sagt Ghilardi. Das ist nicht unerheblich, da Bergamo von der fremdenfeindlichen Lega Nord regiert wird.

Die Stadt war über Jahrhunderte ein reiches Handelszentrum, vor allem bekannt für ihre Textil- und Seidenproduktion. Der hier geborene Opernkomponist Gaetano Donizetti, nach dem das größte Theater Bergamos benannt ist und dem jeden Sommer ein Festival gewidmet wird, ließ sich gerne in einem mit kostbarem Seidenbezug tapezierten, blauroten Sessel nieder, in dem er 1848 auch gestorben ist. Der Sessel steht heute, fachmännisch vom Tapezierer Carrara renoviert, im Donizetti-Museum, das in dessen Sterbehaus untergebracht ist, dem Palazzo Scotti.

Der Maler Francesco Coter blickt aus seinem schönen Atelier auch auf den Palazzo Scotti. „Aber mit dem Donizetti habe ich es nicht so“, sagt er. „Ich bin Mahlerianer.“ Allein von Mahlers 4. Symphonie habe er 28 verschiedene Aufnahmen. Aber, ja, wir wissen es schon: „Hier gilt nicht, was im Ausland gemacht wurde, nur was in Bergamo gemacht wurde.“ Das ist allerdings eine ganze Menge.

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