Zu Gast bei Jesus

Zehn Jahre. Was sind zehn Jahre schon im Vergleich zur biblischen Ewigkeit? Und doch kann sich in zehn Jahren so manches verändern. Nicht nur zum Besseren. Wallace Wilcox erfährt das gerade am eigenen Leib, gewissermaßen seine persönliche kleine Passion. „Normalerweise“, sagt er, „müsste der Speisesaal hier voll sein mit unseren Gästen, doch wo wir vor zehn Jahren noch Gruppen mit 45 Teilnehmern hatten, sind es in diesem Jahr mal zwölf, mal 16 Reisende, die sich das noch leisten können.“

Wilcox, ein kleiner, energischer Mann mit weißem Haar und stechend blauen Augen, ist Chef einer Reiseagentur aus Asheville, einer Kleinstadt in North Carolina. Wilcox Travel ist auf Missions- und Pilgerreisen spezialisiert und arbeitet für große christliche Hilfsorganisationen in den USA. Alle zehn Jahre bietet das Familienunternehmen Reisepakete zu den Passionsfestspielen in Oberammergau an. Seine Gäste wohnen immer beim Turmwirt, gleich neben der Kirche. „Das sind schon unsere siebten Passionsspiele“, sagt Wilcox stolz. Doch so schlecht wie in diesem Jahr lief das Geschäft noch nie. Von 1100 bestellten Tickets musste er 500 wieder zurückgeben. „Durch die Wirtschaftskrise und den bis vor kurzem noch sehr starken Euro wurde für die meisten Gäste eine Reise nach Oberammergau unbezahlbar.“

Georg Glas, der Turmwirt, ein korpulentes Mannsbild, der selber schon zwei mal den Pontius Pilatus gegeben hat, pflichtet ihm bei: „2008 bin ich durch die USA gereist mit meinen Paketangeboten, da war der Preis kein Thema. Doch dann kam die Lehman-Pleite, und alles war anders.“ Traditionell stellen die Amerikaner den Großteil der 500 000 Passionsspiel-Touristen.
Knapp 5000 Dollar kostet bei Wilcox Travel die zehntägige Europa-Rundreise, deren Höhe- und Schlusspunkt zwei Tage in Oberammergau sind. Vorher standen Zürich, Luzern, Comer See, Verona, Venedig und Neuschwanstein auf dem Programm. Wilcox begleitet manche Gruppen selbst und gibt ganz den jovialen, dienstfertigen Reiseleiter.

Nach dem Frühstück möchte das Zahnarztehepaar aus Texas gerne eine Schwarzwälder Kuckucksuhr erwerben. Wilcox führt die beiden älteren Leute in ein Geschäft im Zentrum von Oberammergau. Dort wimmelt es bereits von Touristen, die sich für geschnitzte Holzfiguren interessieren. Die vorherrschende Sprache ist Amerikanisch. Wilcox führt das Ehepaar zu einer Wand, an der Kukkucksuhren jeder Größe hängen, erklärt ihnen kurz, worauf sie achten sollen („nur echt mit diesem Etikett!“) und übergibt dann an den Ladenbesitzer. Der nimmt sich der beiden mit äußerster Professionalität an: Die kleine müsse man einmal pro Tag aufziehen, die große nur einmal pro Woche. „Selbstredend haben sie alle ein metallenes Uhrwerk, ist ja kein billiger Import aus Taiwan, im Preis sind bereits die Frachtkosten enthalten, kommt aber günstiger, Mam, weil Sie ja die Mehrwertsteuer zurückkriegen; die Songs, die die Spieluhr spielt, können Sie selbst auswählen, sehr beliebt ist ,Edelweiß‘ aus ,Sound of Music‘, und hier ist der Ausschaltknopf für die Nacht.“

Die Zahnarztgattin entscheidet sich für ein sehr großes Exemplar, bei dem nicht nur der Kuckuck rausschießt, sondern sich auch ein Mühlrad dreht und eine Volkstanzgruppe zum Glockenspiel kreist. Kostenpunkt 1200 Euro. „Thank you, Mam, bitte machen Sie noch ein Foto von Ihrer Uhr, zur Erinnerung, denn es wird zwölf Wochen dauern, bis Sie sie erhalten, sorry for that.“
So geht es fast den ganzen Vormittag beim „Heinzeller“ in Oberammergau, es ist ein Schauspiel neben dem Schauspiel. Von der Wirtschaftskrise scheinen zumindest jene, die es sich leisten konnten, unberührt zu sein, auch wenn Herr Heinzeller sagt, man merke es, denn die Gäste kauften kleinere Figuren. Der Renner als Souvenir sei übrigens der Kraxenträger, auf Amerikanisch Toy-Maker: „Am liebsten haben sie ihn unbemalt, im alten Holzlook.“ Menschenschlangen stehen auch an den Kassen im „Christmas-Shop“ von Käthe Wohlfahrt, wo es im Hochsommer 2000 verschiedene Sorten Christbaumschmuck gibt. Amazing!

Wilcox’ Reisegruppe besteht vorwiegend aus älteren Paaren, doch es ist auch eine Familie mit zwei Söhnen dabei, die als junge Apostel auf der Bühne durchgehen würden. Naturgemäß sind es wohlhabende Leute, Ärzte, Steuerberater, Software-Rentner. Viele kommen aus Texas. Und manche waren vor dieser Reise noch nie in Europa. Bernard Erickson, der texanische Zahnarzt, der seiner Frau die Monster-Kuckucksuhr kaufen durfte, ist vor allem davon beeindruckt, „wie gepflegt die Bauernhöfe und die Felder hier sind“. Er besitzt selbst, als Hobby, eine Farm mit 3,6 Quadratkilometern Ländereien: Mais, Weizen, Rinder. „Kritisch gesprochen“, setzt er an, „legt man hier wohl mehr Wert auf solides Bauen, denkt auch an die nächsten Generationen.“

Kathy, einer pensionierten Programmiererin von Texas Instruments, sind besonders die vielen „goldenen Bögen“ aufgefallen. Sie meint damit das M von McDonald’s und wundert sich, dass sogar auf offiziellen Verkehrsschildern darauf hingewiesen wird, das gebe es in den USA nicht: „So zerstören wir eure Esskultur, was?“

Apropos Essen: Eine amerikanische Reisegruppe muss der Himmel auf Erden für jeden Wirt sein. Sie essen und loben alles, was ihnen hingestellt wird, beschweren sich nie, haben auch keine Sonderwünsche. Gut, dass sie abends kein einziges bayerisches Bier trinken, das ist etwas seltsam. Warum eigentlich? „Es ist zu stark, hat zu viel Alkohol“, sagt die Mutter der beiden Apostel. Man trinkt Wasser oder mal eine Fanta extra.

So wie Booker Morris aus Indiana, ein großer, sanftmütiger Mann mit grauem Haar, der an Bill Cosby erinnert. Er ist Gynäkologe. „Das zwingt dich, an Gott zu glauben. Denn du erlebst jeden Tag das Wunder des Lebens.“ Er verstehe nicht, wie man Arzt und nicht gläubig sein könne. Morris, der zum ersten Mal in Europa ist, reist mit seiner Freundin Joan Simons aus Texas. Die erzählt, dass sie beide über 900 Meilen hinweg eine Fernbeziehung führen, weil keiner sich vom eigenen Umfeld trennen möchte. Schließlich sei sie aktiv in einer Presbyterianer-Kirchengemeinde in einer Vorstadt von Dallas, wo sie auch im Chor singe. Große Menschenansammlungen in Sachen Jesus sind für sie nichts Besonderes: „Wir haben jeden Sonntag zwei Messen mit je 3000 Teilnehmern.“

Klar sind sie gläubig, die Mitglieder von Wilcox’ Reisegruppe, doch von der entspannten Sorte. Während des Passionsspiels in der enormen, mit 5000 Besuchern prall gefüllten Halle sitzen sie in der ersten Reihe. Im englischen Textbuch, das jeder erhält, können sie das grausame Geschehen auf der Bühne nachlesen, doch der Plot ist sowieso allen vertraut. „Incredible“, entfährt es einem von ihnen, als Jesus die Händler aus dem Tempel wirft und dabei viele Tauben aus einem Käfig flattern. „Great!“, findet ein anderer den ersten Auftritt von Pilatus.

Beim Abendessen, das in der Pause des fast sechs Stunden dauernden Stücks im Turmwirt eingenommen wird, gibt sich Joan, die Chorsängerin, vor allem von den Solisten begeistert: „Die sind ja wie professionelle Sänger, glauben Sie mir, ich verstehe was davon!“ Zudem sei das Ganze viel größer und besser, als sie es sich ohnehin erwartet habe. Bernard, der texanische Zahnarzt, meint: „Lesen ist das eine, aber sehen ist wie glauben. Ich habe noch keinen Film gesehen, der es so real rübergebracht hat.“ Alle sind beeindruckt von der Inszenierung und den Massen, die auf der Bühne agieren.

Nach Kreuzigung und Auferstehung, es ist kurz vor elf, verschwindet Wilcox’ Gruppe zügig auf ihren Zimmern. Sie müssen früh aufstehen, denn morgen ist schon der Rückflug nach Texas oder Indiana oder South Carolina. Zwar gebe es dort überall Passionsspiele, hatte Wilcox am Morgen noch erzählt. Doch sie bezögen sich alle auf Oberammergau: „Hier in der Kirche ist 1633 alles entschieden worden, das ist das Original, und das wollen die Leute sehen.“ Wenn sie es sich leisten können.

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