Das Alpen-Delhi

Zubin Bejan Contractor ist ein ungeduldiger Mann. Besser gesagt: Zubin Bejan Contractor muss ein ungeduldiger Mann sein, denn diese Eigenschaft ist Berufsvorraussetzung für ihn. An einem Junimorgen steht er, den Rucksack geschultert, beide Hände an den Riemen, am Rand des Frühstücksbuffets und blickt über viele Köpfe hinweg in den Saal. Ende dreißig ist er und groß, trägt einen dunklen, proper gestutzten Schnauzbart. Seine Augen sind etwas gerötet, sie wirken müde. An großen runden Tischen sitzen viele seiner Landsleute unter einer hohen Stuckdecke und lassen sich das Frühstück schmecken. Es gibt Sambar und Medu Vada. Das eine ist eine gelbe Sauce, in der viele rote Chilischoten schwimmen, das andere sieht aus wie kleine frittierte Donuts. Sambar wird in eine Müslischüssel gegossen und mit Medu Vada aufgestippt.

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„Das ist ein völlig schandhaftes Verhalten”, sagt Zubin leise und schaut auf die Uhr. In zwei Minuten ist es Dreiviertelacht. Zu diesem Zeitpunkt müssten seine Gäste bereits das Jugendstilhotel Terrace verlassen und die kleine, hoteleigene Zahnradbahn besteigen. Nur so könnten sie pünktlich um acht unten in Engelberg mit dem Bus losfahren. Stattdessen muss Zubin, der indische Reiseleiter, nun zusehen, wie Teile seiner indischen Reisegruppe sich noch jetzt in aller Seelenruhe an die großen runden Tische setzen, um ihr indisches Frühstück einzunehmen.

Es ist Tag sechs der 17-tägigen „Classic Tour of Europe”, am Abend zuvor ist die 35-köpfige Gruppe in der Zentralschweiz angekommen, im Bergdorf Engelberg auf 1000 Metern Höhe. Es hat geschneit. Vorher waren sie in London, Brüssel, Amsterdam, Köln, Heidelberg, in Titisee im Schwarzwald und am Rheinfall in Schaffhausen. Heute steht der Höhepunkt auf dem Programm: Fahrt mit drei verschiedenen Seilbahnen auf den „Mount Titlis”, mit 10 000 Fuß der höchste Berg der Zentralschweiz – so verspricht es der Prospekt des Veranstalters SOTC. Er verspricht auch viel Zeit, um „im Schnee zu spielen” und, mit das Wichtigste, einen indischen Lunch im Bergrestaurant. Weitere Tagesordnungspunkte sind die Besichtigung einer Schaukäserei, einer Glasbläserei, das Löwendenkmal in Luzern, Einkaufen in Luzern und eine Bootsfahrt auf dem Vierwaldstätter See. Ein langer Tag also, aber man müsste halt mal los. Zubin geht nun von Tisch zu Tisch, stupft die Leute von hinten ziemlich unsanft an und sagt Dinge in indischen Sprachen, die nicht sehr freundlich klingen. Manche seiner Gäste machen abwehrende Handbewegungen. Andere ignorieren ihn.

Als schließlich alle im Bus sind, ist es eine halbe Stunde später als geplant. Sehnsüchtig blickt der Reiseleiter einem Bus mit NRIs nach, der pünktlich auf die Minute abgefahren ist. NRIs, erklärt Zubin, sind Inder, die im Ausland, vor allem in den USA und Kanada wohnen. „Sie kennen den Wert der Zeit und die Kultur der Pünktlichkeit.”

Nach zehn Minuten ist die Talstation der Seilbahn erreicht. Der Busfahrer stammt aus Ostdeutschland und ist wie die meisten seiner Kollegen hier bei einem italienischen Busunternehmen angestellt. „Letztes Jahr hab’ ich Chinesen gefahren, diesjahr eben Inder”, sagt er. „Mal sehen, wie’s wird.” Zurzeit sind 24 Busse mit Indern im Dorf. Mai und Juni ist Hauptsaison. Jeden Tag kommen und fahren viele Gruppen. Das Hotel Terrace am Sonnenhang oberhalb von Engelberg ist mit 350 indischen Gästen fast ausgebucht. Würde man jemanden mit verbundenen Augen in das alte Hotel bringen, er würde wohl darauf wetten, in Kaschmir gelandet zu sein. 45 935 Übernachtungen indischer Gäste haben sie in Engelberg 2005 gezählt, das sind mit Abstand die meisten in der ganzen Schweiz.

Die Engelberger haben früh den wachsenden indischen Tourismusmarkt beackert, sie haben Dutzende Bollywoodregisseure auf grüne Kuhweiden oder auf den Gletscher des Titlis geführt, damit diese dort ihre Herzschmerzfilme drehen konnten. Sie haben Journalisten und Reiseveranstalter eingeladen, um ihnen „Scenic Switzerland” zu zeigen. Aber vor allem haben sie das Glück gehabt, dass Kuoni, der größte Schweizer Reiseveranstalter, im Jahr 1999 SOTC, den größten indischen Reiseveranstalter, gekauft hat und damit zum Marktführer in Indien wurde.

Die Leute von Kuoni hatten auch die Idee gehabt, aus dem leer stehenden alten Kurhotel eine Art „Indian Village” zu machen. Die Bergbahnen, denen das Hotel gehört, speziell ihr Direktor, fanden, das sei eine gute Idee. Denn sie kannten die Totenstille eines Schweizer Skiortes in den Monaten April, Mai, Juni. „Wer will denn schon in diesem Flotsch und Matsch Urlaub machen?” fragt Albert Wyler. Der Bergbahndirektor schaut aus dem Fenster: Draußen ist alles weiß, die Temperatur knapp über Null Grad. „Wir sehen das und sagen: Scheiße. Die sagen: wonderfull!” Wyler ist ein großer Mann, er trägt silbernes Haar und eine blaue Brille. Er beendet Sätze gerne mit: „. . . das ist auch klar”. Zum Beispiel, dass unter den Hoteliers Horrorgeschichten über indische Gäste die Runde machten. Und dass diese Geschichten natürlich nicht zuträfen. Beziehungsweise müsse man der „etwas speziellen” Klientel eben das bieten, was sie braucht und erwartet. Dann erzählt er die Geschichte mit dem Bunsenbrenner: „Inder brauchen indisches Essen. Wenn sie das nicht kriegen, dann holt die Mama den Bunsenbrenner raus und eine Büchse Curry und kocht auf dem Zimmer.” Damit das nicht passiert, kochen im Hotel Terrace und im zugehörigen Bergrestaurant sieben eigens für vier Monate engagierte indische Köche original indisches Essen, scharf und mit viel Linsen, Zwiebel, Kreuzkümmel und natürlich selbst gemachten Currymischungen.

Die Seilbahn hat nun die Spitze des Titlis erreicht. Zubins Gäste sind alle da. Sie haben freudig aus dem Fenster geschaut, fotografiert und gefilmt, obwohl da nur ein weißes Einerlei vorüber zog. Wegen des schlechten Wetters von Panorama keine Spur. Die Inder stört das nicht. Manch älterer Herr hat zur Sicherheit schon in der Bahn eine wollene Sturmhaube aufgesetzt, manch ältere Frau trägt Sari, Socken und Sandalen, dazu nur eine dünne Windjacke. Minus zehn Grad haben sie am frühen Morgen auf dem Titlis gemessen.

Bevor sich Zubin mit seinen Reiseführerkollegen ins Bergrestaurant verzieht, bleut er der Gruppe mit ernster Miene Uhrzeit und Treffpunkt ein. Dann werden sie drei Stunden auf den Gletscher entlassen. So viel Freizeit bekommen sie weder in Paris noch in London. Aber schließlich ist dies der Höhepunkt ihrer Europareise, der Gipfel des Exotischen: Schweiz, Gletscher, Schnee. Der Aufzug Richtung Gletscher hält aber zunächst einmal vor einem Fotostudio. Alle strömen hinaus. Es hat sich eine dicke Menschentraube vor dem Eingang gebildet. Drinnen im „Nostalgic photo studio” helfen zwei Frauen den Indern in Dirndl und Trachtenjoppe, und setzen ihnen Filzhüte auf. Der Mann bekommt wahlweise ein Bergseil und ein Gewehr oder ein Alphorn über die Schulter, die Frau einen Strauß Kunstblumen. Dann werden sie vor einem großen Foto mit dem Titlis in bestem Licht drapiert, fotografiert, abkassiert. 29 Franken kostet das kleinste Bild samt Passepartout, Rahmen extra. Der Chef des Studios kommt mit dem Kassieren kaum hinterher, gleichzeitig verkauft er Handschuhe. Sie finden reißenden Absatz.

Draußen auf dem Gletscher läuft Shyam Biyani unter einer Versace-Sonnenbrille durch den Neuschnee. Seine Frau Ruchira folgt in einigem Abstand. Sie hält ein Handy, durch dessen Lautsprecher indische Popmusik scheppert. Dazu singt sie. „ Musik auf Drogen” sei dies, erklärt Shyam. Die Kinder der beiden toben im Schnee. Nicht nur die Kinder. Erwachsene Männer, sogar alte Frauen im Sari klettern auf Schneehügel, um auf dem Hintern herunterzurutschen. Andere posieren strahlend vor Fotokameras mit Schnee in der hohlen Hand, als sei es Goldstaub. Shyam ist da gefasster. Er war schon mehrmals in Europa, Schnee ist kein neues Element für ihn und die Reise, so sagt er, mache er eigentlich nur wegen seiner Kinder. Die Neunjährige habe nun erstmals Geographie in der Schule, da solle sie alles einmal in echt sehen, was sie sonst nur aus Büchern kennt.

Shyam ist 33, von Beruf Sohn und Teilhaber eines großen Bekleidungsunternehmens in Mumbai. 5000 Menschen arbeiten für ihn und seine Familie, 70 Geschäfte haben sie und 1500 Näherinnen. Als gehobenen Mittelstand bezeichnen die Schweizer Touristiker ihre indische Klientel, es sind viele Unternehmer, aber auch Ärzte und Anwälte darunter. Die Reise kostet fast 2000 Euro. Verreist wird nur im Clan, Vater, Mutter, Kinder, Großeltern, manchmal auch Onkel und Tanten. Ein Hauptverkaufsargument, hatte der Bergbahndirektor gesagt, sei das Essen: „Du fährst mit mir nach Europa und ich garantiere dir, dass du den Bunsenbrenner nicht brauchst.”

Im Bergrestaurant auf 2400 Metern sitzt die Gruppe an Holztischen unter Lampenschirmen, die früher mal Kuhmelkmaschinen waren. Vor dem Fenster ziehen die Nebel umher, ab und zu geben sie den Blick frei auf Felswände und Gletschereis. Es gibt indisches Buffet. Dal, die Sauce aus Linsen und scharfem Curry, die nie fehlen darf, genau wie Chicken Tandoori, außerdem Reis und Batata Vada, golfballgroße scharfe Kartoffelbällchen.

„Inder lieben das Essen und sie sind diesbezüglich sehr konservativ”, sagt Manisha Doshi während der Talfahrt in der Seilbahn. Mindestens einmal am Tag brauchten sie das auch auf Reisen, „um befriedigt zu sein”. Die 35-jährige Ärztin ist nur mit ihren zwei Kindern unterwegs und mit der Familie ihrer Schwägerin. Der Mann, Börsenmakler in Mumbai, hatte keine Zeit. Eine Frau ohne Mann auf Reisen, das sei mehr als unüblich, aber sie gehöre eben zu einer neuen Generation. Sie war schon in vielen Ländern. In Afrika, da habe sie in der Tat beinah den Bunsenbrenner gebraucht. Glücklicherweise ließ man sie in die Hotelküche, um das Essen für ihren Mann zuzubereiten. Er gehört der Jain-Religion an, ernährt sich nur vegetarisch und darf zudem nichts essen, was unter der Erde wächst. In Engelberg wird für die Jain separat gekocht. Der Hauptgrund, weshalb für Manisha und ihre Mitreisenden die Schweiz den Höhepunkt der Europareise darstelle, sei aber ein anderer: In indischen Filmen sind Liebes- oder gar Bettszenen tabu. Stattdessen werden an verfänglicher Stelle musicalartige Tanz- und Singszenen gezeigt. Und die spielen sehr oft auf Schweizer Almwiesen, an Bergseen oder auf dem Gletscher. „Mit Filmen”, sagt Manisha, „kann man Menschen lenken.”

Zubin braucht zum Lenken seiner, wie er sagt, „komplett unorganisierten Gruppe” eine laute Stimme und einen gestrengen Gesichtsausdruck. Bis er an der Talstation alle 35 im Bus hat, dauert es eine halbe Stunde. Der Busfahrer weiß mittlerweile, wie das wird: „Ich habe erstmal ’ne Stunde den Bus geputzt. Die werfen alles auf den Boden. So was hab ich noch nicht erlebt.”

Im Schnelldurchlauf geht es nun durch die Käserei, in der ein blondes Mädchen hinter Glas stockende Milch umrührt, weiter zur Glasbläserei, wo zum allgemeinen Erstaunen aus zäher glühender Masse gläserne Schwäne werden, dann nach Luzern, zum Schokolade kaufen und Bootfahren. Doch alles, was jetzt noch kommt, scheint niemanden mehr wirklich zu beeindrucken, löst nicht mehr die kindliche Freude aus, die oben auf dem Gletscher in allen Gesichtern zu sehen war. Bei der Rückfahrt aus Luzern trägt der Sänger, der vom Reiseveranstalter für die hoteleigene indische Disko engagiert wurde, weinerliche Lieder in Hindi vor. Die ganze Busbesatzung singt mit.

Zubin verabschiedet seine Gruppe mit den Worten: „Wir müssen morgen einen Zug erwischen, um auf die Jungfrau zu fahren, einen Schweizer Zug. Dazu müssen wir um Punkt acht Uhr Schweizer Zeit, hören Sie, – nicht indischer Zeit – hier wegfahren. Wenn nicht, dann versäumen wir ihn. Und das ist dann Ihr Problem, nicht meines. Schönen Abend.”

Den verbringt Zubin allein am Bartresen, den Kopf auf die Hand gestützt. Der Ellbogen rutscht langsam weg, der Kopf rückt immer tiefer. Er sieht jetzt sehr, sehr müde aus. „Es reicht völlig, wenn wir morgen um halbneun losfahren”, sagt er leise. „Denn ich kalkuliere immer eine halbe Stunde Pufferzeit ein.”

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