Schwarm drüber

Was ein echter Forscher ist, der scheut die Hitze nicht und nicht die Kälte. Sercan Bilgin, breitkrempiger Hut, stark gebräuntes Gesicht, dunkler Bart, steht wie sein eigenes Standbild auf der Ruine einer Festung, die vor vielen hundert Jahren von Händlern aus Genua gebaut wurde. Sie wollten von hier oben sehen, welche Schiffe 200 Höhenmeter weiter unten durch den Bosporus fuhren, und ihnen gegebenenfalls Zoll abpressen. Sercan Bilgin aber schaut immerzu nach oben, in den Himmel. Der ist heute blau, die Sonne scheint, aber es weht ein kalter Wind aus Süden. Was nicht schlecht ist für Sercan. Denn er zählt Zugvögel. Die haben Rückenwind.

  „Heute ist mein 33. Tag“, sagt der Mittzwanziger nicht ohne Stolz, „jetzt sind es noch 39 Tage.“ So lange dauert die Feldstudie, die der Kern seiner Master-of-Science-Arbeit zum Vogelzug über den Bosporus ist. Und der dauert gute zwei Monate, von März bis Mitte Mai. Der Bosporus ist ein Flaschenhals für den Vogelzug, besonders für die segelnden Arten, erklärt Sercan. Die meiden im Gegensatz zu vielen Singvögeln das offene Meer, denn sie nutzen die Thermik über den Landmassen, um möglichst energiesparend voranzukommen. 40 Arten seien das hier am Bosporus, darunter viele Adler, Bussarde und Falken. Und natürlich Störche, sehr viele Störche.

  Sercan muss oft mitten im Satz abbrechen, denn da fliegt schon wieder was: „Fischadler!“ „Kornweihe!“ „Schwarzstorch!“, ruft er und folgt den Vögeln mit dem Fernglas, um gleich darauf konzentriert die Arten und Stückzahlen und die ungefähre Flughöhe in sein Notizbuch zu schreiben. 72 Tage lang, von früh bis spät. Seine Freundin Buse Ebrem hilft ihm dabei, geduldig. Ob ihr nie langweilig sei? „Nein“, sagt sie, „jeder Tag ist anders, andere Vögel, anderes Wetter. Und außerdem ist es eine Leidenschaft.“

  Tatsächlich ist das hier ein äußerst schöner Arbeitsplatz. Die Vogelbeobachter stehen auf den Hügeln von Sarıyer, mitten in einem Waldgebiet, das sich nördlich der 20-Millionen-Metropole Istanbul erstreckt. Hier wird das Trinkwasser für die Stadt gewonnen. Vogelgezwitscher ist zu hören, es duftet nach Kiefernnadeln. Im Süden sieht man die Skyline des Hochhaus-Stadtteils Maslak. Im Norden ist die Einmündung des Bosporus ins Schwarze Meer zu erkennen. Ein riesiger Frachter nach dem anderen schiebt sich durch die Meerenge, aber weit genug entfernt, sodass man weder ihre Abgase riecht noch ihren Lärm zu hören bekommt.

  Nicht ganz ins Idyll passen die zwei gigantischen Brückenpfeiler, die kurz vor der Einmündung ins Schwarze Meer in die Höhe wachsen. Es wird die dritte Bosporus-Brücke, Sultan-Selim-Brücke soll sie heißen, ein weiteres Prestigeprojekt der regierenden Partei AKP. „Die Brücke wird genau an der Stelle sein, an der die meisten Weißstörche den Bosporus überqueren“, sagt Kerem Ali Boyla. Zwar werde das die Störche wohl nicht sehr stören, sagt der studierte Ökologe und Vogelexperte, der auch Umweltgutachten schreibt, aber die großen Abholzungen für den Bau der Straßen zur Brücke seien nicht gut fürs Ökosystem. „Die Bauwut in der Türkei kennt keine Grenzen, Istanbul soll wohl auf 25 Millionen Menschen anwachsen.“ Boyla wohnt selbst in der hektischen Stadt, nahe dem Taksim-Platz, ist aber jetzt im Frühling im ganzen Land unterwegs, da er Birdwatcher-Gruppen aus Europa die äußerst artenreiche Vogelwelt der Türkei zeigt.

  „Wir haben Glück heute“, sagt er freudig, als wir morgens aus Beşiktaş im dichten Verkehr nach Norden fahren, „das wird ein guter Zugtag, mit vielen Arten.“ In Sarıyer kehren wir zum Frühstück noch in ein Straßencafé mit Börek und Tee ein. So früh muss man nicht aufstehen, denn die Vögel brauchen die Thermik, die erst mit der Sonneneinstrahlung entsteht. Im Frühling sei der beste Beobachtungspunkt hier am nördlichen Bosporus, im Herbst eher am südlichen, da seien große Storchschwärme auch oftmals über den Minaretten der Innenstadt zu sehen, erklärt Boyla. Der Grund: „Ein Storch hat kein GPS. Er fliegt von Afrika über den Mittleren Osten immer nach Norden, Nordwesten.“ Am Bosporus fliege er so lange nordwärts, bis er schon das Schwarze Meer sehe. „Und weil er das offene Meer scheut, biegt er kurz davor ab und fliegt über die Meerenge nach Europa.“ Im Herbst sei es umgekehrt, da fliegt er so lange, bis er das Marmarameer sieht. Das gilt übrigens nur für die etwa 400 000 sogenannten Oststörche, die über den Bosporus nach Polen und bis nach Brandenburg und Bayern fliegen. Die Weststörche nehmen die Route über Gibraltar.

  Aber wie findet ein Storch sein über Jahre genutztes Nest auf einem Schlot in Brandenburg? Die grobe Navigation Richtung Nord erfolge über den Sonnenstand, bei manchen Arten auch über das Magnetfeld der Erde, sagt Boyla. „Die Feinnavigation funktioniert über geografische Orientierungspunkte wie Seen, Flüsse, bestimmte Berge. Manchmal auch Autobahnen, Gebäude oder Brücken. Die alten Störche wissen, wo es langgeht.“

  Am Beobachtungspunkt über Sarıyer lassen die Störche noch auf sich warten. Es kommen immer mehr Menschen; viele Paare, die allerdings nicht wegen der Vögel hier sind, sondern um Händchen zu halten angesichts des romantischen Bosporusblicks. Mancher lässt sich hier auch mit seinem Auto fotografieren. Ein paar türkische Fotografen in Camouflage-Montur haben es mit langen Teleobjektiven vor allem auf seltene Greifvögel abgesehen. Und sie kommen zu ihren Aufnahmen: Nacheinander schrauben sich nun in der immer stärker werdenden Thermik verschiedenste Adler über unseren Köpfen empor und ziehen ab nach Westen: hübsche, schwarz-weiße Zwergadler; bis auf den dunklen Kopf ganz weiße Schlangenadler, elegante Fischadler, besonders viele breitflügelige Schreiadler, zum Schluss noch der imposanteste, ein Steppenadler. „Der hat sich verflogen“, sagt Boyla, „ein Jungtier. Er bräuchte eigentlich nicht über den Bosporus, weil er in die Steppe von Kasachstan muss – ein großer Umweg.“ Durchs Fernglas ist die Farbzeichnung der Greifvögel gut zu erkennen, oft kann man ihnen sogar buchstäblich ins Adlerauge sehen.

  Die meisten Birdwatcher hier sind Ausländer: Ungarn, Deutsche, eine Familie aus England, die mit Kleinkindern und Großeltern angerückt ist; und ein lustiges, älteres Ehepaar aus Schweden. Die beiden sind mit einheimischem Guide hier, der ihnen Klappstühle und Thermoskanne bereitstellt. „Wir kommen immer im Frühling und im Herbst nach Istanbul“, sagt Liane Lind. „Untertags beobachten wir den Vogelzug und abends tanzen wir Tango. Es gibt keine bessere Stadt in Europa zum Tangotanzen als Istanbul.“

  Und auf einmal sind die Störche da. Eine erste Gruppe von etwa 30 Tieren fliegt vor der Silhouette der Brückenpfeiler vorbei. Großes Oh! und Ah! unter den Umstehenden. Es gebe ein türkisches Sprichwort, erzählt Kerem: „Wenn du Störche fliegen siehst, wirst du im kommenden Jahr viel reisen.“ Die Störche brauchen für ihre 9000 Kilometer lange Reise zwei Monate, sie fliegen bis zu 300 Kilometer am Tag.

  Im Lauf des Nachmittags kommen immer größere Storchengruppen, manche sehr hoch und durcheinandersegelnd. Wie soll man die bloß zählen? „Wir zählen sie erst, wenn sie nach Westen ziehen“, sagt Forscher Sercan Bilgin. „Die kreisenden Tiere zu zählen ist aussichtslos.“ Praktisch an dieser Art Beobachtung ist: Man muss die Vögel nicht lange suchen, sie kommen von selbst: seltene Schwarzstörche, elegante Baumfalken, bunte Bienenfresser und immer wieder Schreiadler. Letztere machen den deutschen Vogelschützern Sorgen. Sercan zeigt uns eine E-Mail auf seinem Smartphone. Ein Schreiadlerschützer aus Brandenburg schreibt darin fast verzweifelt, dass die von ihm besenderten Tiere immer noch in Uganda und Tschad seien. Was denn da los sei? Wenn die so spät loszögen, könnten sie nicht mehr brüten. „Entweder schlechtes Wetter oder zu viel Futter in Ostafrika“, sagt Sercan. Es wirkt, als sei es ihm auch ein bisschen egal. Er muss ja das große Ganze im Blick haben. Und das waren heute 6000 Vögel.

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