Aufstieg der Russen

Vielleicht hätte man einfach die Klappe halten sollen. Und nichts von alpiner Erfahrung und Bergsteigern schwafeln. Denn das hier ist doch etwas ganz anderes. Unter jedem Schritt gibt das glatte Blech nach, es klingt wie Donner. „Psst!“, sagt Anton Vaganov und legt den Finger auf die Lippen. Er tritt stets auf die etwas abstehende Nahtstelle zwischen zwei Dachplatten, bewegt sich zügig und lautlos wie eine Katze. Dann bleibt er stehen und deutet auf eine rostige Fernsehantenne. „Hier müssen wir runter.“ Die Antenne ist die Verbindung zwischen zwei aneinander gebauten Häusern. Jenes, auf das wir wollen, liegt etwa drei Meter tiefer als das, auf dem wir grade stehen. Und fünf Stockwerke unter uns braust der Verkehr.

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  Anton Vaganov, schwarzer Kapuzenpulli, dunkle Locken, aristokratische Gesichtszüge, ist Fotograf. Und seine Fotografie hat ganz wesentlich damit zu tun, dass er sie auf den Dächern von Sankt Petersburg ausübt. Mal stellt er seinen Bruder, als Sensenmann verkleidet, im besten Abendlicht auf die Kuppel eines Palais. Mal fotografiert er ein Mädchen im Engelskostüm über den Dächern. Und mal führt er, so wie heute, einen leicht ängstlichen Ausländer über die zum Glück relativ flachen Dächer der Stadt. Das Roofing, wie sich dieses Hobby nennt, ist in Sankt Petersburg weit verbreitet, eine regelrechte Subkultur unter Jugendlichen. Wer in den oft kanalgesäumten Straßen den Kopf in den Nacken legt, sieht über den prunkvollen Hausfassaden immer wieder Menschen auf den Dächern: keine Kaminkehrer, sondern Jugendliche, die ein bisschen Abenteuer, Adrenalin und Freiheit suchen.

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  „Vielleicht liegt es daran, dass die Stadt so flach ist und so dicht bebaut“, sagt Vaganov, „wer einen Blick haben möchte, muss rauf auf die Dächer.“ Als Roofer, dem es ums Abenteuer, um den Thrill geht, hat Anton auch angefangen. Doch heute sieht der 29-Jährige die Sache etwas kritischer. Mehrere Tausend Menschen betreiben in der Stadt regelmäßig Roofing, schätzt er. Auf die Trottoirs ist an jeder zweiten Ecke Werbung für kommerzielle Dachtouren gesprüht, inklusive Telefonnummer. Durch die Verbreitung von spektakulären Fotos über soziale Netzwerke ufere das Ganze gerade ein bisschen aus, klagt Vaganov. Vor Kurzem hätten sich zwei Jungs an den hier überall von Dach zu Dach gespannten Internetkabeln über den Newski Prospekt gehangelt. „Das tun die nur für den Adrenalin-Kick und um in die Medien zu kommen“, sagt der Fotograf. „Und alle Leute denken dann, die Roofer sind bescheuert.“

  Könnte man von uns gerade auch denken. Denn wir müssen nun über die rostige, zum Glück stabile Antenne auf das andere Dach runterklettern. Vaganov steigt behende vor, nimmt mir meine Tasche ab und zeigt mir, wo ich hintreten muss. Dann geht es über ein etwa 150 Meter langes Dach an großen Schornsteinen vorbei, die zum Festhalten gerade recht kommen, um einen Innenhof herum, noch mal eine schräge Rampe hinauf und dann stehen wir sozusagen auf dem Gipfel: dem Dach des Beloselski-Belozerski-Palais, direkt über dem Newski Prospekt.

  Die Prachtstraße führt hier über den Fontanka-Fluss, an dem sich Adelspalais und geschwungene Brücken reihen. Ausflugsboote fahren auf dem Fluss, man hört die Ansagen bis hier oben. Über die Anitschkow-Brücke, eine Sehenswürdigkeit mit ihren vier in Bronze gegossenen Skulpturen des „Rossbändigers“, schieben sich die Menschen im schönsten Abendlicht. In der Ferne sieht man die Kuppel der Kasan-Kathedrale, auf der Anton Vaganov natürlich auch schon stand. „Nicht schlecht, was?“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an. „Das Gefühl eines so freien Raumes hast du sonst nirgends in der Stadt.“ Darin liegt der Reiz des Roofings: Ein kleines Abenteuer, gepaart mit einer verboten schönen Aussicht. Ganz legal seien die Dachtouren natürlich nicht, gibt Anton zu. Aber die Polizei toleriere es weitgehend. „Die haben anderes zu tun.“ Das Schlimmste, was einem passieren könne, sei eine Geldbuße von 500 Rubel (sieben Euro), und das auch nur, wenn man auf staatlichen Gebäuden erwischt werde. In dieser Hinsicht, – und nur in dieser – findet Anton, sei die Freiheit hier sogar größer als in Westeuropa.

  Wer nicht ganz so abenteuerlustig ist, kann aber auch völlig legal auf bestimmte Dächer der Stadt steigen. Zum Beispiel auf jenes der Isaakskathedrale. Sie ist eine der größten Kuppelkirchen der Welt, mit Platz für mehr als 10 000 Menschen und wurde zum Andenken an den Sieg über Napoleon gebaut. Gegen ein kleines Eintrittsgeld kann man 260 Stufen hochsteigen bis zu dem Säulenumgang unter der goldenen Kuppel. Sobald man ein vor den Selfie-Sticks chinesischer Touristen einigermaßen sicheres Plätzchen gefunden hat, bietet sich hier ein Blick, der kaum zu übertreffen ist. Alle wichtigen Gebäude der im 18. Jahrhundert am Reißbrett entworfenen, und in die sumpfige Newa-Mündung gebauten Stadt liegen unmittelbar vor einem: die Admiralität mit ihrem spitzen Goldturm, das grüne und verschnörkelte Winterpalais, mit der Eremitage im Inneren und dem Schlossplatz davor, einem der schönsten Plätze Europas; weiter hinten, auf einer Insel in der Newa, die Peter- und-Paul-Festung, Keimzelle der Stadt und noch weiter hinten Hafenkräne, schließlich ist das Meer nicht weit.     

  In die Häuser kommt Vaganov entweder durch ohnehin offene Tore oder mithilfe eines Magnetöffners: Er hält ihn draußen an das Lesegerät und mit einem Klacken springt die Tür auf. Die Hälfte aller Mietshäuser der Acht-Millionen-Stadt hätten denselben Magnetöffner, erklärt Anton Vaganov, wohl noch ein Relikt aus sowjetischer Zeit. Für schwierigere Fälle hat er einen ziemlich großen Schlüsselbund. „Hat mich die ein oder andere Flasche Cognac gekostet“, sagt er und grinst. Überabgewetzte Treppenhäuser steigt er leise höher; ist die Tür zum Dachboden verschlossen, findet Vaganov immer einen Schlüssel an seinem Bund. Raus aufs Dach geht es über die meist offenen Dachfenster. Manche dicken Schlösser und sogar Gitter hat er in jüngster Zeit selber an Dachbodentüren angebracht. „Dadurch verbessere ich mein Karma“, scherzt er. „Der Hausbesitzer ist mir sehr dankbar, weil nun nicht mehr Horden von Jugendlichen über seinem Kopf herumtrampeln.“ Nur er und wenige Freunde hätten den Schlüssel; und bei den Freunden sei er sich sicher, dass sie Respekt vor den Hausbewohnern haben und leise wie Katzen über die Blechdächer schleichen.

  Das ist auf Archipenko Saveliis Dach nicht nötig. Die weitläufige Terrasse auf einer ehemaligen sowjetischen Großbäckerei, zehn Fahrminuten südlich des Zentrums ist frei zugänglich. Ab 11 Uhr kostet es Eintritt. „Ich bin nicht schwindelfrei!“, sagt Savelii, während er über das Dach seines „Loft Project Etagi“ führt, eines Kulturzentrums am Rand der Innenstadt. Dabei ist das alles ziemlich sicher hier, Bretterstege und Geländer sorgen dafür, dass keiner der vielen Besucher hinunterfällt. Schließlich werden hier oben ganz legal Dachkonzerte veranstaltet, mit bis zu 500 Menschen. Savelii ist Architekt und er hat das kommerzielle Potenzial der Flachdächer von Sankt Petersburg erkannt. „Noch bis vor wenigen Jahren gab es in der Stadt nur fünf offizielle Dächer, alle von teuren Restaurants, also nichts für junge Leute.“ Nun würden immer mehr Dächer legal zugänglich gemacht. „Wir waren vor eineinhalb Jahren die ersten“, sagt Savelii stolz, der mit seinem schwarzen, sackartigen Designeranzug, dem Ringelshirt und der blonden Tolle genauso gut aus Berlin sein könnte. Dort fliegt er immer wieder hin, um sich Anregungen zu holen. Was aber, wenn es regnet, was gar nicht so selten ist in Sankt Petersburg? „Die Bühne ist überdacht und die Leute haben Regenschirme“, sagt Savelii. „Und sobald nur ein Sonnenstrahl da ist, wollen alle Petersburger raus.“

  Die Dachterrasse ist nur der Höhepunkt des am Ligovsky Prospekt liegenden Kunst- und Kulturzentrums, das auf fünf Stockwerken der ehemaligen sowjetischen Großbäckerei eingerichtet ist. Start-ups können hier Flächen mieten, es gibt zwei Kunstgalerien und mehrere Ausstellungsflächen. Im ehemaligen und noch rußgeschwärzten Großbackofen werden selbst gemachte Kuchen verkauft, zwei Shops bieten Modelabels aus Sankt Petersburg und der Ukraine an. Und oben auf dem Dach fläzen junge Leute in Sitzsäcken auf Kunstrasen in der Sonne. Oder sie machen Selfies von sich und der Aussicht, die hier gleichzeitig goldene Kirchenkuppeln, Graffiti und riesige Industrieschlote zu bieten hat.

  Nichts für Anton Vaganov. Das wäre ihm viel zu kommerziell. Der holt nun, viele Dächer von Savelii entfernt, zwei Flaschen baltisches Bier aus einer Tüte, dazu russische Chips, seine Lieblingsmarke. Wir sitzen über dem Gribojedow-Kanal, auf dem dritten und letzten Dach unserer Tour. Es war sehr leicht und gefahrlos zu erreichen: raus aus dem Dachfenster, hinsetzen, fertig. Gerade ist die Sonne untergegangen. Der Himmel färbt sich orange, an den Gebäuden gehen langsam die Lichter an, unten auf dem Prospekt ist Rush Hour. Hier oben aber herrscht eine große, fast unerklärliche Ruhe. Er wolle nicht weg aus Sankt Petersburg, aus Russland, sagt Anton beiläufig. Das Leben sei zwar nicht leicht, die Inflation, die Meinungsmache der Regierung und die vielen Landsleute, die sich nur über das staatlich gelenkte Fernsehen informieren. „Das ist traurig, aber es bleibt meine Heimat. Im Ausland wäre ich immer ein Alien.“ Übrigens, sagt er, hätten wir vorhin auf dem Dach des Demokratie-Museums gesessen, untergebracht im Beloselski-Belozerski-Palais. Was dort zu sehen ist? „Keine Ahnung, ich war noch nie drin, immer nur oben drauf.“

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