Dieser Weg wird kein leichter sein

„Getrunken worden ist ja früher viel mehr!“ Wenn Manni Nössing von früher erzählt, und wie das war beim Törggelen, dann mag man ihm kaum glauben, schließlich ist der Mann noch keine Vierzig. Nössing ist Winzer, einer der jungen und guten Winzer des Landes, vor allem aber ist er auch einer, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Deshalb starte ich meine Tour hier bei ihm, in bester Hang- und Weinlage über der Stadt Brixen. Ich will mir ein paar Tipps holen. Schließlich ist mein Vorhaben ambitioniert: 48 Stunden Törggelen. Ich will herausfinden, ob man diesem Gaudium deutscher Rentner auch eine sportliche Komponente abgewinnen kann. Mein Plan: Nix Reisebus, sondern alles schön zu Fuß gehen, und natürlich einkehren, was das Zeug hält.

„Eigentlich müsste man das Törggelen schützen lassen“, sagt Manni, während er, es ist Vormittag, von seinem Kerner einschenkt, ein Weißwein, für den er ausgezeichnet wurde. Sogar im Pustertal würden sie es jetzt schon anbieten, wo es kalt ist und kein Wein wächst. „Wenigstens eine Rebzeile sollte ein Buschenschank schon haben“, sagt Manni grinsend. Beim alten Brauch des Törggelen, der sich vom ebenso alten Wort für Weinpresse, Torggl, ableite, gehe es darum, im Herbst von Bauernhof zu Bauernhof wandern, Speck, Schlutzkrapfen und gebratene Kastanien zu essen und natürlich die Weine der Bauern zu trinken. „Aber!“, sagt der Winzer bedeutungsvoll. „Du musst zu Fuß gehen. Du musst es in der Gruppe tun. Und: Du musst genug trinken.“

Verstanden. Aber, nein danke, kein drittes Glas Kerner, ich muss los. Schließlich liegt ein weiter Weg vor mir. Von Brixen über Klausen nach Villanders am ersten Tag, am zweiten weiter über Albions nach Ried. Etwa 35 Kilometer, die teils auf dem „Keschtnweg“, dem Kastanienweg, verlaufen, einer Art Törggelen-Autobahn, die sich auf halber Hanghöhe über der Brennerautobahn nach Süden schlängelt. Manni wünscht mir Glück und nennt mir ein paar Höfe, die ich nicht missen dürfe.

Es geht an abgeernteten Maisäckern entlang, durch kleine Kiefernwäldchen, an Steinkirchen vorbei, unter alten Kastanienbäumen hindurch, die in der Herbstsonne leuchten. Ein fast 1000 Jahre alter Kastanienbaum, so hatte Manni gesagt, soll bei Pinzagen über einem sehr schönen Gehöft liegen, das von einem betagten Ehepaar bewirtschaftet wird. Der alte Bauer steht in blauer Schürze und Flickenjacke vor seinem Stadel, schaut skeptisch. „Grüß Gott, wo steht denn der alte berühmte Baum?“ „Weiß ich nicht. Gibt viele alte Bäume hier.“ „Wissen Sie, ich gehe 48 Stunden Törggelen.“ „Törggelen? Tu ich nicht.“ „Wie war denn Ihre Weinernte heuer?“ „War wenig. Aber ich trink den Wein selber, da weiß ich, für was ich gearbeitet hab‘. „Wie heißt denn ihr hübscher Hof?“ „Fröhlich-Hof.“ Irgendwie auch schön, denke ich im Weiterwandern, dass das Tourismusmarketing noch nicht alles und jeden durchdrungen hat.

Nach Süden wandernd hat man die Sonne im Gesicht, schaut auf die Geislerspitzen, vom Schnee schon bestäubt, hier unten ist es noch warm wie im Sommer. Von der Autobahn im Eisacktal dringt Rauschen herauf. Der Keschntnweg ist nicht anspruchsvoll, manchmal ein paar Wurzeln, sonst durchaus Kinderwagen-tauglich. Solche kommen mir auch entgegen, viele Familien, alternierend mit beherzt ausschreitenden Rentnergruppen. Vor allem an Wochenenden scheint das Törggelen eine Massenbewegung zu sein. Viele Wanderer tragen teure Funktionskleidung, als ginge es auf den Ortler, nicht durch Weinberge. Und jene, die im Törggele-Business tätig sind, tragen fast immer eine blaue Schürze, eine Art Erkennungszeichen.

Das Etappenziel für heute Abend, der Johannser Hof in Villanders, ist noch weit entfernt und es wird früh dunkel. Im Laufschritt geht es durch Feldthurns, ein hübsches Dorf mit einem kleinen Schlösschen. In den Bars wärmt sich die Dorfjugend beim Bier für den Freitagabend auf.

Zwischen Feldthurns und Klausen ist der Weg am schönsten. Es geht viel auf und ab, durch Kastanienhaine und Weinberge, man schaut von oben auf das Kloster Säben, das auf einem Fels über der Autobahn klebt, die Geislerspitzen werden immer plastischer im Abendlicht. Leider wird es zu schnell dunkel. Es ist stockfinster, als ich unten im Tal auf einer schmalen Straße ankomme. Keine blasse Ahnung, wo hier der Weg zum Johannser hinaufgeht. Ich beschließe, meine Grundsätze für heute ruhen zu lassen und zu trampen, schließlich warten sie da oben mit dem Essen auf mich. Tatsächlich hält jemand an, eine junge Frau. Nein, sie gehe nicht zum Törggelen, aber sie lasse mich gerne an der Kurve raus, von da sei es nicht weit zum Johannser.

Die Stube des alten Hofs wirkt wie eine Theaterkulisse. Hohe dunkle Täfelung, auf der die Hochzeitsbilder von mehreren Generationen hängen, ein halbes Hirschgeweih, ein Bild vom letzten Abendmahl, darunter große Holztische, das alles beleuchtet von nackten Glühbirnen. Neben mir sitzt eine Gruppe von Rotariern, lauter Zahnärzte und Rechtsanwälte aus Innsbruck. Ob das hier heut‘ die große Party wird? Eher nicht. Dafür sind die Wirtsleute interessant. Beide Mitte Dreißig, er Glatze und Ohrring, sie eine Mischung aus Uma Thurman und Julia Roberts, aber im Dirndl. Sie bringen Gerstensuppe und Schlachtplatte, dazu Blauen Portugieser aus dem Steinkrug. „Ich sehe mich eher als Bauer, nicht als Wirt“, sagt Ewald Brunner. Vor drei Jahren hat er den 800 Jahre alten Hof zusammen mit seiner Frau Michaela, also Uma, übernommen. Der älteste Teil des Hauses ist die Rauchküche, gleich neben der Stube. Der Raum wirkt eher wie eine Höhle, ein roh gemauertes Gewölbe, alles pechschwarz. „Hier“, erklärt Ewald, „räuchern wir den Speck.“ Mit einem Rohr wird der Rauch vom Ofen in der Stube in den Raum geleitet, wo die Speckseiten an langen Balken hängen. Der Rauch kann durch einen großen Schlot abziehen, in dem die Würste baumeln. Solche „Rauchkuchln“ gibt es kaum noch im Land, deshalb sei sogar die Speckindustrie aus dem Tal gekommen und habe hier einen Film drehen lassen über die traditionelle Herstellung. „Im Film hieß es dann, dass der Industriespeck aber besser ist“, sagt Ewald und lächelt schief. „Für uns ist das Törggelen ein guter Nebenverdienst“, sagt Michaela. Ihre Schwiegermutter hätte 1972 damit angefangen, weil der Hof kurz vor dem Konkurs stand. „Das hat den Hof gerettet.“ Aus der Stube nebenan rufen die Rotarier, sie wollen zahlen, bald darauf sieht man durchs Fenster einen Porsche Cayenne in der Nacht verschwinden. Ich trinke noch ein Krüglein Portugieser und hoffe für morgen auf besseren Gruppenanschluss.

Fast ohne Kopfweh geht es am nächsten Tag von Klausen zuerst unter der Autobahn durch und dann die Hänge auf der anderen Talseite hinauf. Hier verlasse ich die gut beschilderten Pfade des Keschtnwegs. Was auch prompt dazu führt, dass der Weg in einer Kiesgrube endet. Also wieder zurück und sehr steil durch den Wald hinauf. Power-Törggelen eben. Endlich ein Wegweiser, nach Laien. Da muss ich heute abend sein. Im Ortsteil Ried gibt es auf engem Raum mehrere Buschenschänken, ein Törggele-Cluster sozusagen. Im hübschen Dorf Albions sind Tiere auf der Weide, die aussehen wie eine Mischung aus Pudel und Kamel. Sie wirken deplatziert, aber lustig. Alpacas. Ihr Züchter, ein junger, kerniger Typ namens Martin Vikoler, fängt ein weißes Alpaca ein. „Das ist die Europameisterin“, sagt er stolz und fasst es um den langen Hals. „Die ist mehr als 10.000 Euro wert.“ Es komme bei den Alpacas auf die Dichte des Fells an. Da es wasser- und staubabweisend ist, eigne es sich gut für den Outdoorbereich. „Es ist sechs mal wärmer als Schafwolle“, sagt der Züchter. Er sammle die Wolle nun auf dem Dachboden und wolle daraus trendige Outdoorjacken machen lassen. Und Törggelen? „Ach“, sagt Martin, „ich geh lieber früh schlafen und am nächsten Tag auf den Berg.“

Von Albions geht es den Berg runter bis nach Ried, die Landschaft leuchtet schon wieder in der Spätnachmittagssonne, die Tage sind einfach zu kurz. In der Dämmerung erreiche ich den Buchfelder Hof. Steinstufen führen zur hölzernen Haustür hinauf. Drinnen herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Die große Bauernstube ist leer, alle Tische sind gedeckt. Gegenüber in der Küche stehen drei Generationen der Familie Runggatscher, und treffen letzte Vorbereitungen, koordiniert von der alten Bäuerin in Kittelschürze. Auf dem Holzherd dampfen die Töpfe. Es ist bis auf den letzten Platz alles ausgebucht“, sagt der Seniorchef. Da geht auch schon die Haustür auf. Im Sekundentakt steigen Menschen über die Türschwelle, Kinderwägen, Rollstuhlfahrer: „Buona sera“, „Salve.“ „Buona Sera.“ In fünf Minuten ist die Stube mehr als voll, ein ganzer Reisebus Italiener. Und sie sind gut drauf. Gleich mit dem ersten Wein prosten sich alle lautstark zu. Eine blondierte Frau stillt auf der Ofenbank  ihren Säugling. Sie ist hier die Gruppenleiterin. „Pauletta Pelagalli“, stellt sie sich vor, nachdem sie fertig gestillt hat, sie sei Radiomoderatorin bei Radio Italia: „Die Leute hier haben sich alle über meinen Blog kennen- , manche auch lieben gelernt“, sagt sie lächelnd. „Und einmal im Jahr veranstalte ich eine Reise.“ Diesmal eben Törggelen. Sie kann das nicht aussprechen und ist erfreut, als ich ihr erkläre, dass es vom italienischen torchio, Weinpresse, kommt.

Die Stimmung hier drin ist weit besser als gestern Abend, es erinnert ein wenig an das Italienerwochenende auf dem Oktoberfest. Die Bauersfamilie bringt nacheinander Gerstensuppe und Schlutzkrapfen – kleine Teigtaschen mit Spinatfüllung – dann Schlachtplatte mit „Crauti“, wie das Sauerkraut auf Italienisch heißt, zum Schluss noch süße Krapfen. Und natürlich Wein, viel Wein. Die Italiener lieben es. Ich auch. Gegen halb zwölf, keine Ahnung wie viele Krüglein mit Lagrein oder Blauem Portugieser ich getrunken habe, muss ich an die Worte des Winzers Manni denken: Ja, ich bin zu Fuß gegangen. Ja, ich habe es in der Gruppe getan. Und, wahrlich, ich habe genug getrunken. (Erschienen im ADAC-Magazin/ aktuelles Heft Südtirol)

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