Salz bei die Fische

Es ist keine drei Minuten  her, dass Nino Bentivegna die verwitterte Tür zu dem Palazzo aufgestoßen hat. Er zeigt auf die schön verzierte katalanische Stiege aus Tuffstein, 16. Jahrhundert, den verwunschenen Innenhof, in dem ein alter Ford Fiesta vor sich hin rostet. Und er bedauert, dass die Stadt dieses Kleinod verfallen lasse.

Zurück auf der Straße, herrscht auf einmal ein Höllenlärm. Ein Hubschrauber steht tief über den engen Gassen der Altstadt, sechs Carabinieriautos rauschen mit Blaulicht und Sirene vorbei. „Spettacolo!“, ruft Bentivegna gegen den Lärm an und grinst. Ein paar mutmaßliche Drogendealer seien verhaftet worden, das hätten schon die Morgennachrichten gemeldet. „Und deshalb veranstalten sie dieses Theater.“ Das Stadtgefängnis, das in einem schönen alten Kloster untergebracht ist, liege gleich am Eingang der Altstadt, aber die Carabinieri fahren mit den Beschuldigten einmal mitten durch, um auch allen zu zeigen: Seht her, wir tun was! Kleine Fische, große Wirkung.

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Doch Sciacca, diese normalerweise ruhige Kleinstadt an Siziliens Südwestküste, ist eigentlich für andere kleine Fische bekannt: Sardellen und Sardinen. Ihretwegen ist man irgendwann bei Nino Bentivegna gelandet, einem kleinen, sympathischen Mann Ende vierzig, mit schwarzgrauen Locken und Silberbrille. Er ist hier geboren, betreibt ein Restaurant und eine Pension im zum Meer hin abfallenden Gassengewirr und kann stundenlang über Essen und ausgefallene Zutaten reden. Denn Bentivegna ist leitendes Mitglied von Slow Food Sizilien, jener in Italien erfundenen und mittlerweile weltweit verbreiteten Bewegung für hochwertiges Essen.

Geht man mit ihm morgens durch die Stadt, wenn er die Einkäufe für sein Restaurant macht, weist er einen hin auf den Unterschied zwischen Bauern-Zucchini und Industrie-Zucchini, kauft zum Probieren ein paar grüne Knollen, die sich als süßliche Gurken entpuppen, oder bestellt bei einem Fischstand im Vorübergehen Sardinen – worauf sich ein kurzsichtiger Alter daran macht, den kleinen Fischen den Kopf abzureißen und sie gekonnt mit dem Daumen zu filettieren.

„Ich esse ja fast nur pesce azzurro“, sagt Bentivegna. Blauer Fisch heißt das übersetzt, und es meint vor allem die blau-silbern schimmernden Sardinen und Sardellen.Sie stehen am Anfang der Nahrungskette, lagern also keine Schwermetalle ein, reproduzieren sich schnell und haben viel Omega-3-Fettsäuren. Im Unterschied zu den größeren „Weißfischen“ hätten sie aber immer als Arme-Leute-Essen gegolten, sagt Bentivegna. „Doch der Geschmack der hier bei Sciacca gefangenen Sardellen und Sardinen ist einzigartig, delikat, geradezu nobel!“ Um das zu unterstreichen, weist er den Koch in seinem kleinen Restaurant an, uns zwei Teller Pasta mit Sardinen und wildem Fenchel zuzubereiten. „Haben wir selbst herausgefunden, dass diese zwei Zutaten sich wunderbar vermählen lassen.“ Fisch und Fenchel vermählen, so spricht Bentivegna.

Sciacca ist eine Stadt mit 40 000 Einwohnern und noch so ursprünglich sizilianisch, wie man das eigentlich auf dieser touristischen Insel nicht erwarten darf. Der mittelalterliche Kern der Altstadt mit seinen steilen, zum Meer hin ausgerichteten Gassen geht auf Normannen und Araber zurück. Es gibt enorm viele Kirchen und Klöster, allesamt aus dem gelblichen Tuffstein errichtet, aus dem schon die Tempel im nahen Selinunte oder Agrigento gebaut wurden. Manches ist vortrefflich restauriert, wie etwa das ehemalige Jesuitenkloster, das heute als Rathaus genutzt wird. Anderes bröselt vor sich hin. Es gibt viele Wettbüros, noch mehr Fußball-Fanclubs in bester Lage; aus Wandnischen schauen einen nachts verzückt Statuen mit elektrifiziertem Heiligenschein an. Padre Pio rangiert dabei an erster Stelle, abgeschlagen dahinter die Muttergottes, erst dann kommt Jesus.

Am Hauptplatz, der wie eine Terrasse über das Mittelmeer gebaut ist, stehen die Pensionisten und schauen auf den großen Hafen hinunter, in dem eine wahre Armada aus Fischerbooten liegt. Hier lebt noch ein Gutteil der Bevölkerung vom Fischfang. Das ist auch daran abzulesen, dass es unten im Hafen kaum Restaurants und keine Souvenirgeschäfte gibt. Stattdessen ein großes Trockendock und offene Werkstätten, in denen an Schiffsmotoren geschweißt wird. In der Hafenbar ist gleich beim Eingang ein Ständer mit umfangreichem Kondomsortiment aufgestellt, schließlich sind wir unter Seeleuten. Aus den großen Mülltonnen entlang der Mole ernähren sich ganze Katzenfamilien.

Immer wenn ein Fischerboot zurückkommt, entsteht Betriebsamkeit: Motorroller und Ape-Dreiräder kurven hin und her, Kühllastwagen holen die glitzernden Fischchen in weißen Styroporkisten ab und bringen sie auf die Märkte der benachbarten, größeren Städte. Ein Teil der Sardinen und Sardellen geht aber auch in die fischverarbeitende Industrie von Sciacca. Etwa 30 Betriebe gibt es hier, die aus frischem Fisch lange haltbaren Fisch machen, und das tun sie im Wesentlichen nicht anders als seit Tausenden Jahren: Fisch plus Meersalz, Deckel drauf, fertig ist die älteste Konserve der Menschheit.

Ganz so simpel sei es natürlich nicht, sagt Agostino Recca, der Patriarch eines Familienunternehmens, das seit den 1930er Jahren derlei Konserven in Sciacca herstellt. Während man früher die Fische noch in Tuffsteingrotten am Hafen verarbeitet hat, ist sein Betrieb seit ein paar Jahren einige Kilometer nördlich der Stadt in eine neue Fabrikhalle gezogen. „So viele Auflagen und Kontrollen gab es früher nicht“, sagt der 75-Jährige. „Dabei nehmen wir nur Fisch und Salz und sonst nichts.“ Er sitzt in seinem Büro unter Bildern von Padre Pio, der Muttergottes und Silvio Berlusconi. Letzterer schüttelt auf dem Foto einem großen Mann die Hand. Das sei sein Bruder, sagt Recca. Einer von vieren, die in die USA ausgewandert sind. Dort organisiert er den Import der Fischkonserven. Bis zu 800 Tonnen Fisch verarbeitet der Betrieb pro Jahr, mindestens ebenso viel Meersalz braucht es dafür. Es stammt aus den Salzgärten von Trapani.

An Metalltischen stehen Frauen mit weißen Häubchen und weißen Gummistiefeln und trennen die Fischchen von ihrem Kopf. Sie machen das so geschickt, dass sich die am Boden stehenden Eimer geschwind mit Tausenden Fischköpfen füllen. Es riecht gewöhnungsbedürftig.

In einem zweiten Schritt werden die Fische mit grobem Meersalz bestreut, dann kommen sie auch schon in die Dosen, eine Schicht Salz, eine Schicht Fisch. Auf die oberste Schicht Fisch kommen ein Holzdeckel – und die nächste Dose. Die Konserventürme sind hoch. Etwa 45 Tage lang muss der Fisch so reifen, bevor die Dosen mit einer Maschine verschlossen werden. Abgesehen davon ist alles Handarbeit. Die Frauen drapieren jedes einzelne Filet mit geschickten Fingern im Glas oder rollen den Fisch kunstvoll um kleine Kapern.

Wer aber eine wirklich gute Salzsardelle essen wolle, sagt Agostino Recca, der solle nicht die Filets in Öl, sondern die ganzen Fische in Salz probieren. Sie enthielten mehr Fett und schmeckten deshalb auch besser: „Du wäschst das Salz unter kaltem Wasser ab“, weist er an, „teilst den Fisch, nimmst die Wirbelsäule samt Gräten heraus. Dann legst du die Fische auf ein Weißbrot, träufelst Olivenöl darauf, aber das Richtige, etwas Pfeffer und Zitrone – dann wirst du wissen, was eine Salzsardelle sein kann!“ Den jungen Leuten sei das aber oft schon zu viel Arbeit, sie wollten sich die Hände nicht schmutzig machen.

Nach Deutschland, sagt Reccas Vorarbeiter, verkauften sie sehr wenig. „Dort zählt nur der niedrigste Preis, du musst ihnen porcheria verkaufen, Mist.“ Damit mache man sich aber den Namen kaputt. Immerhin einigte sich Reccas Sohn Vincenzo, der Juniorchef, mit dem Nostalgie-Händler Manufactum, der seit kurzem die hübschen, altmodisch bemalten Fischdosen im Programm hat.

Spaziergänge durch Sciacca führen zwangsläufig immer aufwärts oder abwärts, vorbei an zinnenbewehrten Palazzi, an steinernen Stadttoren, von denen es einst sieben Stück gab, hinein in kühl duftende Barockkirchen oder in die Ateliers von Keramikhandwerkern, für die die Stadt neben der Fischerei und den Thermen bekannt ist. Heiße Quellen waren hier schon in griechischer und römischer Zeit in Betrieb. Der Jugendstil-Thermenkomplex auf einer Klippe südlich der Altstadt hat allerdings schon bessere Zeiten gesehen. Der Putz blättert, und die elegante Holztür zwischen den zwei nackten Bronze-Damen ist am helllichten Nachmittag fest verriegelt.

Ja, sagt Nino Bentivegna, das sei „ein Stachel im Herzen der Stadt“: Früher seien die Leute von weit hergekommen, um hier zu kuren. Dann habe man die Therme vor zehn Jahren an einen privaten Pächter gegeben, der sie heruntergewirtschaftet hat. Nun versucht die Region Sizilien, sie wieder selbst zu übernehmen. Es gibt hier manches, was nicht so läuft, wie es sollte. Unmittelbar neben der Therme steht ein enormes Betongebäude, das aussieht, als hätten zwei fliegende Untertassen an ein Hochhaus angedockt. „Das Stadttheater“, sagt Bentivegna, „hat ein Politiker den Bürgern bei der Wahl versprochen.“ Es wurde vom renommierten Architekten Giuseppe Samonà entworfen und ist praktisch seit 1973 ein Rohbau. Nun solle es aber endlich fertiggestellt werden, es gebe wieder Geld. Doch Bentivegna macht sich keine Illusionen: „Wahrscheinlich verlegen sie die elektrischen Leitungen, und dann ist wieder Schluss.“

Da schwärmt der schöngeistige Wirt lieber von der Baukunst der Araber und taucht ab in seinen Weinkeller, der einmal ein arabischer Kornspeicher gewesen ist: Bei den Bauarbeiten zur Frühstückspension sei man auf mehrere dieser fünf Meter hohen, in den Fels gehauenen Hohlräume gestoßen. Sie seien mit einer Mischung aus Eiweiß und Asche verputzt gewesen. Mittels Rohrleitungen habe man das Korn, aus dem die Stadt im Mittelalter ihren Reichtum bezog, hinunter in den Hafen befördert.

Die Pension, die Bentivegna vor ein paar Jahren in ein normanno-arabisches Gebäudeensemble bauen ließ, kann man nur zu Fuß erreichen, da die Gassen treppenförmig und sehr eng sind. „Deshalb haben wir kaum italienische Gäste. Die müssen überall mit dem Auto hin. Die Deutschen hingegen lieben das Treppensteigen.“

Na ja. Wenn man nach ein paar Gläsern Wein im kühlen Innenhof der Pension spätabends die fast senkrechte katalanische Stiege zum Zimmer hochkraxeln muss, die Bentivegna freilegen ließ, obwohl darüber eine nicht so schöne, aber viel flachere Treppe verlief, relativiert sich diese Liebe für den Augenblick.

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