Gras drüber

Der Berg ruft. Wirklich? Nein, die Drossel ist’s. Sie sitzt auf einem Wipfel an der Baumgrenze und singt, als gäb’s kein Morgen mehr. Recht hat sie, schließlich ist Mitte April, und wer jetzt noch kein Weibchen hat, der sollte sich sputen. Der Berg, der hier gerade in seinem Ruf von einem kleinen Zugvogel übertönt wird, heißt Böses Weibl. Er steht etwas südlich des Großglockners und, wie alle Berge hier, in seinem Schatten. Dabei ist nicht nur sein Name origineller, sondern er ist auch ein vorzüglicher Skitourenberg, noch dazu relativ leicht zu besteigen. Normalerweise.

Doch in diesem Winter war wenig normal. Fast kein Schnee auf der Nord-, dafür massenweise Schnee auf der Südseite der Alpen, zu der auch das Großglocknergebiet gehört. Der Winter gab also zumindest hier ein Versprechen: Firntouren bis weit in den Mai hinein. Wer sich nun aber vom Lucknerhaus, gelegen auf immerhin 1900 Metern, aufmacht in Richtung Böses Weibl, der geht durch Drosselgesang und seltsame Mückenschwärme, über gurgelnde Bächlein und Krokusse – allein der Schnee ist hier nur noch fleckenweise vorhanden.

„Es ist jetzt so schnell gegangen mit der Schneeschmelze“, sagt Vittorio Messini, „das liegt daran, dass der Boden wegen der hohen Temperaturen den ganzen Winter über nicht richtig gefroren war.“ Vittorio Messini kennt sich aus mit Schnee und Eis und zudem mit Fels. Der drahtige Mittzwanziger mit Unterlippen-Geißbart und verspiegelter Sonnenbrille ist Bergführer, Extrembergsteiger und studierter Geologe. Und er gehört als Jüngster bereits seit drei Jahren zu den Kalser Bergführern, einem Verein, der seit 1869 besteht und der für das Dorf Kals wichtiger ist als die Musikkapelle. Letztere ist zwar ambitioniert und tritt auch im Ausland auf, stets mit Multivisionsshow, in deren Zentrum der Großglockner steht. Aber die Bergführer, die verwirklichen den Traum vieler, einmal auf dem höchsten Berg Österreichs zu stehen. Bergsteigende Touristen, die nach Kals kommen, fragen nicht nach den prächtigen Bergen Hochschober, Muntanitz oder Böses Weibl, sie wollen auf den Glockner und sonst gar nichts.

An schönen Tagen im Sommer erreichen bis zu 300 Leute den Gipfel, und selbst im Winter sind es manchmal rund 100. Mit Skiern kann man bis knapp unter die Adlersruhe auf 3400 Meter aufsteigen, die letzten 400 Höhenmeter geht es kletternd und zu Fuß. 60 bis 80 Mal sei er schon am Glockner gewesen, sagt Messini, dessen Eltern von Florenz ins Kalser Tal eingewandert sind. „Bei mir macht der Glockner die Hälfte all meiner Führungen aus, aber für die Kalser Bergführer insgesamt sind es mindestens 90 Prozent.“

Messini ist international unterwegs, vergangenen Herbst gelang ihm die Besteigung von Cerro Torre, Fitz Roy und Torre Egger in Patagonien, doch er macht darüber nicht viel Aufhebens. Eigentlich suche er eine Stelle als Geologe, aber das sei schwierig, „wenn man nicht sechs Wochen, sondern sechs Monate im Jahr frei braucht zum Bergsteigen.“ So verdient er sich sein Geld eben mit dem Bergführen. Vor ein paar Tagen war er mit zwei „Vollgas-Holländern“ auf der Dufourspitze in der Schweiz. „3000 Höhenmeter Abfahrt, oben Pulver, unten Firn, und dann sind sie in Zermatt direkt ins Après-Ski.“

Unsereiner wäre schon froh, wenn jetzt irgendwann einmal eine geschlossene Schneedecke begänne. Anschnallen, abschnallen, Ski tragen. „Warum machst du das eigentlich, Depp?“, scheint die Drossel zu fragen, „jetzt, wo du schön an einem See liegen und ein gutes Buch lesen könntest?“ Wie gesagt, der Winter hat noch ein Versprechen einzulösen, wenigstens einmal guten Firn! Und vom Bösen Weibl, so verspricht Messini, sei der Blick auf den Großglockner besonders gut. Ein erster Versuch, den Gipfel vom Lesachtal aus zu besteigen, scheiterte. Von dort sind es mehr Höhenmeter, aber dafür gibt es weniger Wind und steilere Skihänge. Doch wegen Schneefalls, Kälte und Wolken war auf 2800 Metern Schluss, keine fünf Meter Sicht. Das Böse Weibl zeigte sich kein einziges Mal und wies uns ab. Runter ging es der Aufstiegsspur entlang auf steinhart gefrorenem Lawinenschnee.

Heute nun das Gegenteil. Viel Sonne, Wärme, braunes Gras und überall frische Wühlmauslöcher. Und endlich, auf mehr als 2300 Metern, nach einer Stunde Ski-Tragen und Skischuhwandern, beginnt die zusammenhängende Schneefläche. Es ist immer wieder erstaunlich, wie heiß es selbst in großer Höhe werden kann, wenn es windgeschützt ist und der Schnee wie ein Reflektor wirkt. Das ist ja auch das Schöne an den Frühlings-Skitouren, dass man nicht frieren muss und die Lawinengefahr gut berechenbar ist.

Früher, da ging man, wenn überhaupt, nur im Frühling auf Skitour, sagt Toni Gliber. Er ist mit seinen 82 Jahren der älteste der Kalser Bergführer und empfängt in der Küche seines Hauses im Kalser Ortsteil Lana. „Man ist vielleicht zwei Mal pro Winter mit Skiern auf den Glockner, aufs Böse Weibl oder den Hochschober, und das war’s dann.“ Die Ausrüstung sei ja auch nicht zu vergleichen gewesen mit der heutigen: Seehundfelle, die am Ski nicht gehalten hätten, beutelartige Jägerrucksäcke und Segeltuchjacken, die binnen kurzer Zeit „hart gefroren waren wie Blech“. Geschätzte 700 Mal war Gliber auf dem Großglockner, davon lebte er, auch wenn er als einer der wenigen aus dem Tal schon Ende der fünfziger Jahre mit Gästen bis zum Mont Blanc und ans Matterhorn kam. Heute sind die Radien der jungen Bergführer deutlich größer. Messini, der mit seinen 25 Jahren schon in Patagonien war und bald in den Himalaja fährt, bewundert den alten Gliber mit seiner großen Erfahrung trotzdem. Zusammen mit einem Freund plant er gerade eine Erstbegehung in einer ziemlich schattigen und abweisenden Nordwand unweit des Bösen Weibls. „Da gibt es noch viele unbegangene Linien.“ Ob die Wand schon mal einer durchstiegen habe, will am Küchentisch der jüngste vom ältesten Bergführer wissen. Der muss keine drei Sekunden nachdenken: „Der Blasl.“ „Ah, der Blasl!?“, antwortet Messini, und es wird nicht ganz deutlich, ob es jetzt Enttäuschung ist oder Bewunderung.

Gliber kann sich sogar noch an das Glockner-Skirennen erinnern, das bis 1949 ausgetragen wurde. Es führte von oberhalb der Adlersruhe bis auf die Pasterze, den großen Gletscher auf der Kärntner Seite. In den dreißiger Jahren berichtete der Rundfunk live darüber, und die Glockner-Abfahrt gehörte wie Hahnenkamm und Lauberhorn zum Abfahrtskalender. Ski-Tragen war für die Hobby-Athleten selbstverständlich, denn Lifte gab es natürlich keine.

So gesehen knüpft eine Frühjahrstour auf das Böse Weibl an diese Tradition an, denn die Skier trägt man auch hier lange genug. Im oberen, landschaftlich sehr schönen Teil hat man sie aber wieder an den Füßen. Und endlich ist der Gipfel zu sehen, eine wie mit dem Lineal gezogene, weiße Pyramide, 3119 Meter hoch. Die letzten 30 zum Gipfelkreuz geht man trotz ausreichend Schnee besser ohne Ski über den Grat. Im zerfledderten Gipfelbuch finden sich viele Einträge, die auf schlüpfrige Art „Böses Weibl“ und „besteigen“ kombinieren. Wo ist er jetzt, der Großglockner? Im Norden, wo er sein sollte, sind nur weiße Nebel zu sehen, die jetzt auch wieder um den Gipfel des Weibls wabern. Die Abfahrt ist denn auch kein Firnvergnügen. Wenigstens ein pulveriges Etwas liegt noch in den Mulden, und dann ist da auch schon viel zu früh wieder die braune Grasnarbe: also wieder Ski auf den Rucksack binden und Skischuhwandern, an Krokussen, Wühlmauslöchern und Bächen vorbei. Die Drossel ruft immer noch, der Berg nicht mehr.

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