Nachts im Kaukasus

Die Zeit drängt. Bald wird es dunkel, und wir haben den ganzen Tag im Auto gesessen – Bewegungsdrang! Wir sind viel später als geplant nach Stepanzminda gekommen, ein etwas schäbiges Dorf, das inmitten der Bergriesen des Kaukasus liegt, gerade noch in Georgien, an der Grenze zu Russland. Schnell einchecken in das schicke Holz-Stein-Hirschgeweih-Hotel, das hier seltsam deplatziert wirkt, als hätte jemand den riesigen Holzkasten per Helikopter aus dem Zillertal an den Hang über das Dorf bugsiert.

Jetzt aber endlich die Bergschuhe anziehen und den Hang hinter dem Rooms Hotel hinauf. Sich anstrengen, frische Luft atmen, eine Aussicht haben. Es geht durch einen Streifen Kiefernwald, dann steil über braungrüne Wiesenhänge hinauf, bis man nach einer guten halben Stunde auf einer hübschen Alm steht. Von hier hat man einen guten Blick auf den Kasbek, einen 5000 Meter hohen Ex-Vulkan, dessen vergletscherter Gugelhupf-Gipfel sich jetzt, kurz vor der Dämmerung, noch einmal aus den Wolken schält. Allein dafür hat es sich schon gelohnt. Zeus soll am Kasbek Prometheus angekettet haben, als Strafe, weil Prometheus den Göttern das Feuer stahl und den Menschen brachte.

Feuer könnte man jetzt auch gebrauchen, denn die Dämmerung kommt schnell. Auf der Alm grasen ein paar Pferde um eine Kapelle herum. Etwas unterhalb sitzt ein langbärtiger Pope auf einem Plastikstuhl und schaut mit einem alten Fernglas zu einem sehr steilen Hang hinauf. Er gestikuliert aufgeregt. Ein paar junge Männer stehen neben ihm. Ob da oben ein Pferd sei, frage ich. „Nein, nein, Mensch!“, antwortet einer der Jungs in rudimentärem Englisch und macht mit der Hand eine Geste, die besagt: „Wohl ein Irrer!“ Tatsächlich ist durch das Fernglas eine schmale Gestalt mit roten Hosen und ohne Rucksack zu sehen. Sie ist noch weit oben, scheint aber abzusteigen.

Nachdem der Pope und seine Jungs alle mal unter großem Aha durch mein Fernglas geschaut haben, mache ich mich an den Abstieg. Mitten im Kiefernwald komme ich dann vom Weg ab, es ist stockdunkel. Zum Glück ist die Stirnlampe im Rucksack. Auf einmal nähert sich oben aus dem Wald ein Licht. Es kommt näher. Und trägt rote Hosen. Ein schmächtiger, blasser Mann mit rotem Schnurrbart und feinen Gesichtszügen. Er sieht aus, als wäre er einem Tolstoi-Roman entsprungen, spricht aber gutes Englisch. Da auch er unsicher bezüglich des Rückwegs zum Hotel ist, gehen wir gemeinsam, stolpern über Wurzeln und Steine, finden endlich den richtigen Weg. Er heiße Iwan, komme aus Moskau, erzählt er, sei mit Frau und Kind da und wollte einfach „noch irgendwo hochsteigen vor dem Abendessen“.

Als er den Namen der Zeitung hört, für die ich arbeite, sagt er: „Ich glaube, ihr habt mich schon mal interviewt.“ Aha. Weshalb? Er habe da in Moskau, St. Petersburg und London ein paar Cafés gegründet mit dem Namen Ziferblat, sagt er. Das Besondere: Man zahle nicht für Tee und Kuchen, sondern für die Zeit, die man darin verbringe. Er wolle bald auch ein solches in Berlin eröffnen, sagt er noch und verschwindet dann schnell unter den Hirschgeweihen in der großen Lobby. Es ist ja schon spät, und Zeit ist Geld.

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