Tränen und Trauben

Es ist eine Geschichte, die das Zeug zur Hollywood-Schnulze hätte: wie aus einem amerikanischen Künstler, der in Moskau studiert hat und Ölbilder im Stil des 19. Jahrhunderts malt, einer der renommiertesten Bio-Weinbauern Georgiens wurde. Eines Landes, in dem der Wein nicht einfach ein gutes Getränk, sondern eine Religion ist.

Doch diese Geschichte hat sich wirklich zugetragen. Und das hat nicht nur mit John Wurdeman, dem Maler, sondern auch viel mit Gela Patalishvili zu tun, einem Weinbauern, der in achter Generation die sanften Hänge um den Ort Tibaani bestellt. Dort steht der Mittvierziger jetzt an den bereits abgeernteten Rebzeilen der Rotweinsorte Saperavi – es war ein heißer und trockener Sommer, der Blick reicht über ein breites Flusstal bis zu den hohen Gipfeln des Kaukasus. „Ich habeJohn gesehen, wie er da unten saß und Trauben malte. Da bin ich hin und habe gesagt: ,Wenn du unseren Wein malst, dann musst du auch verstehen, wie er gemacht wird.‘“ Er lud den Amerikaner mit der Pferdeschwanz-Frisur zur Ernte ein und karrte ihm 500 Kilo Trauben vor das Haus. „Was soll ich damit?“, habe er gefragt. „Georgischen Wein in Quevris machen!“, hat Gela Patalishvili ihm geantwortet. Und nach einer Pause hinzugefügt: „Ich helfe dir natürlich dabei.“

Daraus entstand das Weingut „Pheasant’s Tears“, das heute etwa 25 Hektarbewirtschaftet. Aus 15 nur in Georgien vorkommenden Traubensorten stellen die beiden ausschließlich Quevri-Weine her.

Die Quevris, das sind für die Georgier Heiligtümer: große, teils mehrere tausend Liter fassende Tonamphoren, die in die Erde eingegraben werden. Der Traubenmost wird darin vergoren, dann wird der Quevri luftdicht verschlossen und erst nach sechs Monaten wieder geöffnet, um den nun fertigen Wein auf Flaschen zu ziehen. Funde von Traubenkernenin Tonamphoren legen nahe, dass diese Art der Weinherstellung in Georgien bereits 6000 vor Christus praktiziert wurde. Damit wäre es das älteste Weinbauland der Erde, die Quevri-Methode kam 2013 auf die Unesco-Liste des kulturellen Erbes der Menschheit.

Was zu Sowjetzeiten als altmodisch verschrien und für den Export nach Russland als ungeeignet befunden wurde, erlebt heute einen neuen Hype: „Winzer aus Europa und Australien kommen zu uns, um die Quevri-Kelterung zu lernen“, sagt Patalishvili, während er durch den Marani führt, einen Schuppen, in dem die Amphoren in den Boden eingelassen sind, nur ihre runden Öffnungen sind zu sehen. In Europa arbeite man viel mit aufwendiger Kellertechnik, Zuchthefen und Temperaturregulierung. „Das brauchen wir hier alles nicht.“ Die Temperatur regelt der Boden, und die wilden Hefen der Weintrauben reichten für die Gärung völlig aus.

„Ich wollte nicht, dass Weine exportiert werden, die nicht mehr georgisch sprechen“, sagt John H. Wurdeman, der Maler und Weinbauer, „die sich nicht mehr von jenen aus dem Napa Valley unterscheiden.“ Wurdeman ist ein großer, sanftmütiger Mann, der Bart und Trekkingsandalen trägt und leidenschaftlich werden kann, wenn es um Wein geht. Er sitzt in seinem Restaurant im Dorf Sighnaghi, das hübsch auf einer Hügelkuppe liegt. Über die Liebe zu einer Frau und die Liebe zum polyfonen georgischen Gesang ist er aus Virginia über Moskau nach Georgien gekommen – und vor knapp 20 Jahren einfach hier geblieben. Heute verkauft er seine nach ökologischen Standards gemachten Weine bis nach Australien und Japan, wo er in der Szene wie ein Star gefeiert wird. Er ist fürs Marketing und die internationalen Kontakte zuständig, während sein Freund und Geschäftspartner Gela die Weine macht.

John schenkt einen bernsteinfarbenen Weißwein ins Glas, einen sieben Jahre alten Mtsvani. Beim ersten Schluck denkt man: schlecht geworden! Beim zweiten: hmm, mal schauen. Beim dritten: Tannine, Quitte, Leder – interessant! So gehe es jedem, der das erste Mal einen nach traditioneller Methode gekelterten georgischen Wein trinkt, sagt John, man müsse sich herantasten. Schalen, Kerne und Stängel bleiben bei bestimmten Sorten wochen- bis monatelang auf dem Wein in der Amphore. Er ist dadurch gerbstoffreicher, voller Tannine und Phenole, die ihm Struktur und Körper geben. „Diese Weine sind nicht Pop, sondern Punk“, sagt Wurdeman.

Tatsächlich ist das ganze Land eher Punk als Pop, es hat Ecken und Kanten, Schlaglöcher und Menschen, die stolz sind auf ihre Kultur, die nicht nur eine eigene Sprache und eine eigene Schrift hervorgebracht hat, sondern auch mehr als 500 von weltweit 4000 Traubensorten.

Ein solcher Mensch ist Abt David, Metropolit von Alaverdi. Der Weg zu dem orthodoxen Bischof führt aus dem touristisch gut erschlossenen Sighnaghi hinunter in das breite, fruchtbare Tal des Alazani-Flusses. Es geht durch arme Dörfer mit rostigen Blechdächern, immer wieder entlang an langen, wunderschönen Nussbaumalleen, vorbei an alten Männern, die mit dem Eselskarren Bündel goldgelber Maisstauden wer weiß wohin liefern, an Frauen, die an der Straße Kartoffeln, Wassermelonen und vor allem Tomaten anbieten. Weingärten, Maisfelder und Blumenwiesen wechseln sich ab. Im Weinort Telawi steht eine lange Schlange sowjetischer Oldtimer-Lastwagen an der Straße, ein jeder übervoll mit Trauben. Die Fahrer warten, bis sie ihre Fracht in der Genossenschaftskellerei abladen können.

Dann steht man plötzlich vor dem Alaverdi-Kloster, einer hohen, von Mauern umgebenen Kirche aus dem 11. Jahrhundert, inmitten von Feldern gelegen, die begrenzt werden von den hohen Gipfeln Dagestans. Hier wird seit Kurzem wieder Wein gemacht, auf Betreiben des Metropoliten höchstpersönlich. Der entsteigt gerade einem golden metallisierten Geländewagen, trägt Sonnenbrille zu langem Bart und schwarzer Kutte, in der er sein Smartphone verwahrt. Frauen eilen zu ihm und küssen ihm die Hand. Im Schnelldurchlauf führt er die Besucher durch den neuen Weinkeller, den er als gelernter Architekt selbst mitgeplant hat, und bittet dann zum Gespräch in den Festsaal des Klosters, in dem vor zwei Jahren das erste internationale Quevri-Symposion stattfand.

„Wenn nicht die konservative orthodoxe Kirche, wer sonst sollte die uralte georgische Tradition des Weinbaus weiterführen?“, fragt er und fügt hinzu: „Aber wir entwickeln sie modern weiter.“ 15 000 Flaschen produziert das Kloster selbst, nur in Quevris. Fünf Mönche sind sie hier nur, 2006 haben sie aus einer Ruine, die nach sowjetischer Kirchenverfolgung und postsowjetischem Bürgerkrieg übrig geblieben war, das Kloster wieder aufgebaut. Bischof David schenkt fast orangefarbenen Rkatsiteli-Weißwein in die Gläser, auf dem schicken Etikett steht „1011“, so heißt die Marke – mindestens seit diesem Jahr wird hier im Kloster Wein hergestellt. „Wein ist für uns Georgier alles. Würde, Mut, Ehrlichkeit“, sagt der Bischof. Der Baum der Erkenntnis sei in der georgischen Überlieferung kein Apfelbaum, sondern ein Weinstock, die Heilige Nino, die Georgien zu Beginn des 4. Jahrhunderts christianisiert hat, habe dies mit einem Kreuz aus Rebholz getan.

„Gaumarjos“, „auf den Sieg“ bedeutet das georgische Prost, und egal ob es aus dem Mund eines Bischofs oder eines Bauern kommt, es erinnert daran, dass dieses kleine christliche Volk zwischen Schwarzem Meer und Kaukasus immer wieder überfallen und drangsaliert wurde, von Mongolen und Persern, dagestanischen Stämmen und zuletzt von den Russen. Die hatten wegen der westlich orientierten Politik des Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili im Jahr 2006 kurzerhand ihren Markt für georgische Agrarprodukte geschlossen – also auch für den Wein – und ihn erst 2013 wieder geöffnet. Das war in etwa so, als würde Deutschland ein Importverbot für italienische Produkte erlassen, denn nichts anderes war das kleine Georgien für die große Sowjetunion und ist es bis heute für die Russen: ein Sehnsuchtsland, in dem es den besten Wein, die süßesten Tomaten, die feinste Küche und eine beneidete, südländische Lebensart gibt.

Die Georgier, heute ein Volk von 4,5 Millionen Menschen, haben irgendwie alles überstanden, sich ihre Kultur bewahrt. „Die Familien auf dem Land haben nie aufgehört, ihren eigenen Quevri-Wein herzustellen“, sagt Giorgi Barisashvili, auch als es in der UdSSR nur um Massenproduktion ging. „An diese familiäre Tradition konnten wir anknüpfen.“ Barisashvili, ein großer, dunkelbärtiger Mann, ist der kundigste Experte zur Weinbaugeschichte, er lehrt an der Universität in Tiflis und berät Bauern zum Weinausbau in Quevris. „Diese hatten den Ruf, schlechten Wein zu machen, wogegen ich seit 22 Jahren anschreibe.“ Zwar seien nur wenige Prozent des verkauften georgischen Weins Quevri-Wein. „Aber er ist seine Seele und macht 90 Prozent seines Images aus!“Barisashvili lebt im einzigen noch verbliebenen alten Haus von Mzcheta, der alten Hauptstadt Georgiens, die das geistliche Zentrum der georgisch-orthodoxen Kirche ist. Bis auf sein Haus und die Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert seien alle Gebäude der alten Stadt der von oben verordneten Neubauwut der Regierung zum Opfer gefallen. „Ich habe den Architekten alte Fotos und Dachziegel gezeigt, aber die wollten im neorömischen Stil bauen, wie sich das Touristen aus Irkutsk oder der Taiga wohl vorstellen.“ Barisahvilis Keller ist voll mit aus dem ganzen Land zusammengetragenen Tonkrügen, Ziegeln und anderen Artefakten. Er will bewahren, was es noch zu bewahren gibt, nicht nur beim Wein.

Seinen selbst gekelterten schenkt er nun in eine flache Tonschale und spricht einen langen Toast auf die Gäste und die Freundschaft, wie es in Georgien üblich ist. Er trinkt die Schale in einem Zug aus, befüllt sie neu und reicht sie dem Gast. Als man die Lippen angesetzt hat, sagt er grinsend: „Die Weinschale ist aus dem 5. Jahrhundert, hat mir ein Archäologe überlassen.“ Wie gut, dass sie einem vor Schreck und Ehrfurcht nicht aus der Hand fällt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.