Vlado und der Wolf

Der Dackel ist verschwunden. Seit einer Woche, wie vom Erdboden verschluckt, so klagt der Dackelbesitzer – ein Bauer in den waldigen Hügeln oberhalb von Terchová, einem Dorf in der Nordslowakei. Als Vlado Trulik das hört, schleicht sich ein schiefes Lächeln auf seine Lippen. Er braucht nur eins und eins zusammenzuzählen, und weiß, wo der Dackel geblieben ist.

Später, als wir auf einer Wiese Rast machen und Trulik Grillspieße aus Haselnussholz mit Würsten und gefüllten Paprika bestückt, erzählt er belustigt, was er dem Bauern lieber vorenthalten hat: Genau vor einer Woche habe er hier mit einer anderen Gruppe gegrillt. Da tauchten plötzlich zwei Steinadler auf. „Wir sahen, wie sie im Sturzflug hinunterschossen und hinter den Bäumen etwas jagten – genau dort, wo der Bauernhof ist. Jetzt weiß ich, was es war!“

Wer mit Vlado Trulik durch die Kleine (Malá) Fatra, den kleinsten Nationalpark der an sich schon winzigen Slowakei wandert, bekommt viele solcher Geschichten serviert. Trulik, Ende dreißig, Kurzhaarschnitt, Bärtchen, hat einen guten Schmäh, so würden es die Wiener nennen, und hier, nur 250 Kilometer nordöstlich davon, orientiert man sich natürlich an Wien, woran sonst. Vlado erzählt beileibe keine Lügenmärchen, er schmückt höchstens ein wenig aus und bringt so seinen Gästen unterhaltsam die Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt dieses Mittelgebirges näher. Das ist geprägt von dichten Wäldern, ausgedehnten Blumenwiesen und scharfen Kalkfelsen. Es sind die nordwestlichsten Ausläufer der Karpaten, nicht ganz so wild wie die benachbarte Hohe Tatra, aber auch mit einer in Europa einzigartigen Artenvielfalt gesegnet. Braunbären, Wölfe und Luchse sind nur die spektakulärsten davon.

Da trifft es sich gut, dass Vlado ein Experte für die sogenannten großen Beutegreifer ist, noch dazu Autodidakt, denn die Umwälzungen in seinem Land vor 20 Jahren ließen kein Studium zu. Er musste, wie viele seiner Landsleute, im Ausland Geld verdienen, in seinem Fall in einer Baumschule in Ostbayern. „Wir waren weiße Sklaven“, sagt er dazu nur. Für die Natur hat er sich immer schon interessiert und als er in Bayern den Wolfsforscher Erik Ziemen kennenlernte, begann er, sich noch intensiver mit diesen Tieren auseinanderzusetzen.

Da sein Land kaum Geld für den Naturschutz bereitstellt, liegt dieser in den Händen einiger weniger Idealisten. Vlado ist einer davon, er wandert durch die unzugänglichsten Gebiete, zählt Spuren und Kot und baut Fotofallen mit Bewegungsmelder an den Stellen auf, von denen er weiß, dass sie immer wieder von Luchsen oder Wölfen aufgesucht werden. So versucht er, einen Überblick über die Bestände zu bekommen, um im Kampf gegen die mächtige Jägerlobby Argumente zu haben. Die Jäger würden zum Beispiel sagen: Im Gebiet Kubinska Hola gibt es 50 Wölfe, da müssen wir welche abschießen. „Das ist ein Schmarrn!“, sagt Vlado, „es ist immer dasselbe Rudel mit nur fünf Tieren, das aber durch zehn verschiedene Jagdreviere streift.“

Man wandert hier durch eine extrem dünn besiedelte Landschaft, die kleinen Dörfer mit ihren glänzenden Blechdächern liegen zwischen den Hügeln, hier ein paar Heuhaufen, dort ein Kartoffelacker, die meisten Täler sind unverbaut. Nur ab und zu wird das Idyll gebrochen durch einen bunten Plattenbau oder den einsamen Schlot einer längst aufgelassenen Fabrik. Wo früher die kommunistischen Genossenschaften Weizen und Mais angebaut haben, sind heute große Blumenwiesen. „Das Wissen um die Landwirtschaft ist teilweise verlorengegangen“, sagt Vlado, „und wer will sich das schon antun, wenn er bei Lidl billig Kartoffeln kaufen kann?“

Gut findet er das nicht, und um dem entgegenzuwirken, lässt er in der Pension Muran im Örtchen Štefanová, dem Ausgangsort für die Wandertouren, auftischen, was das Land hergibt: Schon am ersten Tag, man ist kaum dem Auto entstiegen, drückt einem Vlado einen Blaubeerschnaps in die Hand, mit dem Hinweis: „Zeckenimpfung“. In der Abendsonne neben der Pension dreht sich ein Lamm überm Feuer, daneben steht eine Frau. „Darf ich vorstellen, meine Frau Danka, sie hat das Lamm mit ihren Kräutern nach allen Regeln der Kunst eingelegt.“ Das Lamm stammt von einem befreundeten Bauern und es schmeckt wirklich exquisit. „Bei mir sind schon viele Vegetarier eingebrochen“, sagt Vlado beim Essen, „wenn nicht hier, wo dann, sagen sie sich, und schließlich hat das Schaf ja unsere ganze Artenvielfalt aufgefressen. Prost!“ Eine Wanderwoche in der Malá Fatra ist unerwartet auch eine kulinarische Zeitreise: Da ist etwa Kofola, die tschechoslowakische Antwort auf Coca-Cola, immer noch sehr beliebt; da ist der Sahnejoghurt in sozialistischer Retropackung, da sind viele Sorten von slowakischem Wickel-Käse und sehr gehaltvoller Dunaj-Rotwein. Trinkfest sollte man bei Vlado jedenfalls sein.

Von der Terrasse der Pension Muran kann man mit dem Spektiv die Lichtungen und Höhenzüge rund um den markanten Gipfel des Großen Rozsutec nach wilden Tieren absuchen, heute weidet eine Hirschkuh mit ihrem Kalb unter dem Dolomit-Gipfel des 1610 Meter hohen Berges. Doch manchmal sind auch Bären zu sehen, erzählt Vlado. Vor ein paar Tagen habe er mit einer Gruppe lange Zeit eine Bärin mit drei Jungen durch das Fernrohr beobachten können.

Auf unseren Wanderungen sind vor allem die Hinterlassenschaften der Tiere zu besichtigen, worauf Vlado dann in etwa so hinweist: „Jetzt geht doch nicht wie Vollignoranten an der schönen Bärenscheiße vorbei, der hat sich große Mühe gegeben!“ Auch Spuren und Kot vom Wolf zeigt er uns. Der Wolfskot bestehtvöllig aus Haaren, die Vlado natürlich alle kennt: „Wildschwein, Hirsch, Reh.“

Aber es sind nicht nur die großen Tiere, um die es geht. Immer wieder steckt einem Vlado einen Halm oder eine Blume zu: „Probier das, davon kann man im Extremfall überleben.“ Wie ein Schaf kaut man dann auf Waldsimse, Gemüselauch oder den gelben Blüten des Wiesenbocksbarts herum. Die Natur ist hier noch in einem erfreulich guten Zustand. „Aber sie wird stark bedrängt“, sagt Vlado. Im nur 30 Kilometer entfernten Zilina etwa steht ein gigantisches Werk des koreanischen Autoherstellers Kia, 600 000 Autos werden hier pro Jahr gebaut. Zusammen mit anderen Firmen bringt es das Fünf-Millionen-Einwohnerland auf 1,2 Millionen Autos pro Jahr, das dürfte europäischer Rekord sein.

Fährten sind im feuchten Waldboden immer wieder zu sehen, gerade hat Vlado eine Spur entdeckt, die ihn besonders erregt: Es ist ein regelmäßiges, netzförmiges Muster: „Motocross-Fahrer!“ In der Ferne sind sie auch zu hören. „Das ist absolut verboten im Nationalpark“, sagt der Naturschützer, „aber die meisten Fahrer sind Polizisten.“ Vlado zieht nun ganze Baumstämme über den steilen Waldweg, um ihnen die Rückfahrt zu erschweren. „Dafür ist mir keine Anstrengung zu groß“, sagt er keuchend. Als die Motocross-Fahrer uns sehen, hauen sie knatternd in die andere Richtung ab.

An einer Kreuzung von zwei Waldwegen bleibt Vlado stehen, beugt sich unter einen Baumstumpf, holt den Speicherchip aus seiner Fotofalle heraus und legt ihn in die Kamera ein. Das ist immer ein spannender Augenblick. Noch dazu hier, wo sich mehrere Wolfsrudel kreuzen. „Ich beobachte das seit 15 Jahren. Ich weiß nicht warum, aber hier kacken sie alle gerne hin.“ Auf dem Chip sind dann leider nur Bilder von Hirschen, einem Vogel und einem Marder zu sehen.

Auf seinem Computer hat Vlado aber spektakuläre Fotos von Wölfen, Bären und Luchsen. Letztere sind noch scheuer als die Wölfe und im Wald praktisch gar nicht zu sehen.

Es sei denn, man besucht Milos Majda und seine Frau Erika. Diese steht auf der Terrasse ihrer kleinen Blockhütte am Waldrand und hält eine Katze in den Armen. Um ihre Beine scharwenzelt ein Schäferhund. Die Katze ist ein vier Wochen alter Luchs, man sieht es an den Pinselohren und den großen Tatzen. Milos Majda, ein großer, wortkarger Mann, ist einer der bekanntesten Naturschützer der Slowakei. Er ist eigentlich Nationalparkranger in der Kleinen Fatra. „Aber der Park hat nicht einmal Geld, um unser Benzin zu zahlen“, sagt Milos bitter. „Und die EU fördert ohnehin nur die Zerstörung der slowakischen Wälder mit ihren Subventionen für die Holzwirtschaft.“ Milos verdient sich Geld für seine Naturschutzprojekte dazu, indem er versteckte Kameras an Adler- oder Schwarzstorchhorsten montiert und die Aufnahmen ans Fernsehen verkauft. Dies ist der vierte Luchs aus dem Zoo, den er und Erika großziehen und auswildern. Dabei hilft ihnen ihre Schäferhündin, die den kleinen Luchs wie auch schon seine Vorgänger sofort adoptiert hat. Sie lässt ihn sogar an ihren Zitzen saugen, ein kurioser Anblick. Wenn er älter ist, geht Milos mit ihm tagelang in den Wald, der Luchs bleibt immer länger weg und kommt irgendwann gar nicht mehr.

Auf der Wiese über Terchová halten nun alle die von Vlado kunstvoll mit Würsten, Paprika und essbaren Blumen gespickten Spieße übers offene Feuer, als auf einmal einer ruft: „Die Adler!“ Zwei große Schatten schrauben sich in der Thermik neben uns über den Wald. „Ich glaub’ es nicht!“, ruft Vlado, „Punkt zwei, wie am letzten Sonntag!“ Nur diesmal werden sie keine so fette Beute machen wie vor einer Woche. „Den Dackel haben sie schon längst an das Adlerjunge verfüttert.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.