Emma Zinsli wurde es zu viel. Sie hat ihr Haus am Dorfplatz nun verkauft. „So viele Leute und Autos – ich hab‘ es lieber ruhig.“ Zinsli, 89 Jahre alt, agil und braun gebrannt, trägt lange graue Haare, ihre Hände stecken in gestrickten Wollfäustlingen; der Mund ist zahnlos. Die älteste Einwohnerin von Valendas schiebt jeden Tag ihre Schubkarre durch das Dorf. „Ich arbeite immer etwas.“ Heute fährt sie ein paar Holzscheite von ihrem alten zu ihrem jetzigen Wohnhaus, 150 Meter entfernt, aber „viel ruhiger“. Jedem, der es hören will, sagt sie ihre Meinung zu den unerhörten Dingen, die im Dorf vorgehen. Das neue Gasthaus am Brunnen sei gut, das schon. Schließlich könne sie dem Wirt ihre passierten Himbeeren verkaufen. „Aber sie geben mir meine Flaschen nicht zurück, so geht das doch nicht!“ Es sei halt viel Trubel durch das Gasthaus entstanden.
Viel Trubel? Wer an einem Dezembertag durch das auf 800 Meter, über der Rheinschlucht gelegene Grubündner Bergdorf Valendas spaziert, den beschleicht eher der Eindruck, es handele sich um einen Ort aus einer anderen Zeit; und gleich müsste der Pferdepostillion um die nächste Hausecke klappern – was gar nicht so abwegig ist. Denn erst 1984 quittierte hier Hans Engi, der letzte Schweizer Briefträger mit Pferdewagen, den Dienst. Er wohnte in dem Haus am großen Holzbrunnen, das jetzt das Gasthaus ist.
Es gibt viele Menschen in Valendas, die für ein bisschen mehr Trubel ziemlich viel Zeit geopfert und noch mehr Geld in die Hand genommen haben. Walter Marchion ist einer davon. Der pensionierte Agronom merkte irgendwann, dass sein Heimatdorf aussterben würde, wenn niemand etwas unternimmt. Die Jungen wanderten ab in die Städte, viele der auffällig großen Gebäude standen leer und verfielen oder wurden zu selten bewohnten Zweitwohnungen. Ein Schicksal, das viele Alpendörfer teilen. „Ich wollte meine Heimat nicht verlieren“, sagt Marchion. Also gründete er 2004 zusammen mit anderen Dorfbewohnern den Verein Valendas Impuls. „Wir wollten wieder Leben hineinbringen in diese großen Häuser, Wertschöpfung.“ Man machte Befragungen unter den 300 Bewohnern, gab Bücher zur Dorfgeschichte heraus, sanierte das alte Backhaus, um dort einmal im Monat gemeinsam Brot zu backen. Und dann war da plötzlich die Idee, das alte Engihuus, das zentrale Haus am großen, hölzernen Dorfbrunnen zu einem Gasthaus zu machen. Es war jahrzehntelang leer gestanden und sollte nun ein Ort der Gemeinschaft werden, vor allem für Dorfbewohner, aber auch für Touristen.
„Touristisch standen wir immer auf der Schattenseite“, sagt Regula Ragettli, eine der Gründerinnen von Valendas Impuls, und weist hinüber auf die andere Talseite, wo in der Sonne die Skipisten von Flims und Laax glänzen. „Früher haben die da drüben uns gar nicht wahrgenommen“, sagt Ragettli, „aber seit wir das Gasthaus haben, kommen so viele Laaxer und Flimser hierher wie noch nie. ,Das ist so schön bei euch‘, sagen sie, ,die alten Häuser und Bauernhöfe, das haben wir alles verloren‘.“
Eine gewisse Genugtuung ist Regula Ragettli, die Dorfführungen anbietet, dabei ins Gesicht geschrieben. Schließlich war Valendas jahrhundertelang ein wichtiger Handelsort zwischen der Schweiz und Italien. Die großen Wiesen und Äcker rund ums Dorf warfen was ab. Und ein paar Geschlechter von Söldnerführern, darunter die Vorfahren von Walter Marchion, kamen zu Geld, mit dem sie in ihrem Heimatort große, fast städtisch wirkende Häuser bauten. Ein besonders schönes ist das Türalihuus aus dem 15. Jahrhundert. Es wurde kürzlich saniert und in zwei Ferienwohnungen umgebaut: alte Täfelungen und Rauchküchen mit Designermöbeln.
Durchdachtes Gebäude statt Show-Architektur: Jedes Zimmer ist ein Unikat
Aber der Motor des Dorfes ist das Gasthaus am Brunnen. Von außen sieht es unspektakulär aus. Die Fassade ist dieselbe geblieben wie seit hundert Jahren: grüne Fensterläden, Giebeldach. Doch sobald man vom Brunnenplatz durch die Tür tritt, merkt man, dass hier der Mief schweizerischer Rösti-Beiz-Kultur mit dem großen Besen hinausgekehrt wurde. Runde und eckige Eichentische, an denen schlichte schwarze Holzstühle stehen, beleuchtet von ovalen Glasballons. In der Mitte steht eine weiße Säule. „Die trennt und verbindet zugleich die zwei Stammtische“, sagt Gion A. Caminada, der an einem der beiden sitzt. „Statisch hätten wir die Säule nicht mehr gebraucht, aber ich wollte sie unbedingt behalten.“ Der Architekt Caminada ist einer der Gründe, weshalb das Gasthaus am Brunnen zu einem alpenweiten Vorzeigeprojekt geworden ist. Caminada ist Professor an der ETH Zürich, hat sein Architekturbüro aber bewusst in seinem Heimat-Bergbauerndorf Vrin. Er baut fast ausschließlich in Berggebieten, um ihre Eigenständigkeit zu erhalten, um Mehrwert zu schaffen für die Dorfgemeinschaft, um die Abwanderung aufzuhalten. Show-Architektur überlässt er anderen, seine Bauten sind Ställe und Gemeindehallen, Wohnhäuser und manchmal auch Gasthäuser. „Zuerst wollte ich es gar nicht machen, zu marode war das alte Haus. Doch dann war ich fasziniert vom Willen der Dorfbewohner zur Veränderung.“ Für den Bau wurde eigens eine Stiftung gegründet, die aus vielfältigen Quellen die hohe Bausumme von mehr als vier Millionen Franken (3,7 Millionen Euro) aufbrachte. „Beim Entwurf bin ich von den Ereignissen ausgegangen, die hier stattfinden sollen“, sagt Caminada, vom Stammtisch bis zum Hochzeitsmahl. Das Gasthaus besteht aus einem kernsanierten alten Teil und einem Neubau, der anstelle des früher hier angebauten Stalls steht und mit einer Freitreppe an den Brunnenplatz angebunden ist. Im alten Teil gibt es die Bürgerstube mit dem Stammtisch, in die auch mal die Gäste des Gourmetrestaurants gesetzt werden. „Tourismus darf kein Separee sein, sondern soll ineinandergreifen mit der Lebenswelt der Einheimischen“, sagt Caminada. In den oberen Stockwerken des Altbaus sind sieben Gästezimmer. Die Täfelung der alten Schlaf- und Wohnstuben wurde großteils beibehalten, ergänzt mit hellen, von Caminada entworfenen Tannenholz-Möbeln, modernen Lampen und Stühlen, Badezimmern mit handgebrannten Kacheln. Jedes Zimmer ist ein Unikat, detailreich, durchdacht, hier ein Gewölbe, dort duftende Föhrenholztäfelung oder ein schöner alter Specksteinofen. Man fühlt sich sofort wohl.
Im Neubau ist ein Gemeinschaftssaal für 70 Personen untergebracht, das war Auflage der Gemeinde, die der Stiftung das Haus geschenkt hatte. Im lichtdurchfluteten Saal finden Hochzeiten und Trauermahle statt, Seniorentreffs oder Sitzungen. Im Erdgeschoss, mit Terrasse zum alten Streuobstgarten, ist ein kleines, fast urban wirkendes Restaurant entstanden. An einem Dezemberabend unter der Woche sind fast alle Tische im Restaurant besetzt. Unter Singen und Summen trägt Matthias Althof seine kunstvoll angerichteten Kreationen an die Tische, scherzt mit den Gästen und verschwindet wieder in seiner Küche. Althof und seine aus Valendas stammende Frau, die Konditormeisterin Elvira Solèr-Althof, sind der zweite gewichtige Grund, weshalb das Gasthaus so gut funktioniert, davon ist Caminada überzeugt: „Was nützt das bestgebaute Gasthaus, wenn es einen schlechten Wirt hat?“, fragt er. Und ergänzt, dass die Stiftung mit dem Wirtepaar einen Volltreffer landete.
Althof, der aus Ostwestfalen stammt, aber seit 30 Jahren in der Schweiz lebt, ist nicht nur ein hervorragender Koch, er versteht es auch, die Einheimischen zu gewinnen. Das macht er einerseits durch seine Klappe und durch Humor, noch wichtiger aber ist wohl, dass er Gemüse, Fleisch und Obst zum Großteil bei den Bauern im Dorf einkauft – so wie Emma Zinslis Himbeeren. „Aber du darfst natürlich nicht immer beim selben Bauern kaufen“, scherzt Althof, „da muss man sehr diplomatisch vorgehen.“ Das schafft Vertrauen und ist genau dasselbe Prinzip, das der Architekt Caminada beim Bauen anwendet, indem er zum großen Teil Handwerker und Materialien aus dem nächsten Umfeld verwendet. Das Bewusstsein, dass man zusammenhalten muss, gebe es hier im Dorf schon länger, sagt die Wirtin Elvira Solèr-Althof. Nachdem das Gasthaus so gut funktioniert, ist die Stiftung schon wieder dran an einem neuen Projekt: Bis zum Sommer soll gegenüber im alten Schulhaus ein interaktives Informationszentrum zum Naturpark Beverin entstehen, der von der wilden Rheinschlucht bis zu den Dreitausendern reicht. „Das ganze Tal ist schon ein bisschen genervt, dass es ständig um Valendas geht“, sagt die Wirtin. „Aber so ist das halt.“